Hallo Urleben!

KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall
20. Januar 2021
Mut zur Lücke (Axonometrie: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Im Fokus des Wettbewerbs stehen mit Lauscha, Urleben und Stützerbach drei Orte mit ungefähr gleich großen Baubestand, Sie wählten zur Bearbeitung Urleben. Warum?

Gehen wir von einer immer nachhaltigeren Mobilität und einer fortschreitenden Digitalisierung auch in den ländlichen Regionen aus, so gewinnen Dörfer gegenüber den dichteren Stadtzentren an Attraktivität – und das nicht nur rund um die Metropolregionen Berlin, Frankfurt oder Leipzig. Das ist eine Entwicklung, die uns im Büro sehr interessiert.

Lauscha und Stützerbach sind malerische Gemeinden eingebettet in den Thüringer Wald mit einer Vielzahl an Naherholungs- und Tourismusangeboten und damit landschaftlich wie atmosphärisch sehr spezifische Orte. Urleben hingegen ist umringt von einer hochindustrialisierten und monofunktionalen Landwirtschaft, deren Flächeninanspruchnahme mit Naherholung - Wandern über Wiesen und Felder oder Fahrradtouren entlang von naturbelassenen Fließgewässern - nur schwer in Einklang zu bringen ist. Damit steht Urleben beispielhaft für viele ländliche Regionen Deutschlands – für uns also der ideale Ort, sich mit den aktuellen Fragestellungen auseinanderzusetzen: Wie kann man Landwirtschaft und Dörfer so transformieren, dass sie ökologisch und sozial funktionieren und sich finanziell selbst tragen?

Mitten in der Landschaft (Zeichnung: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Welche Vorstellung von Dorf, Landschaft und Gemeinschaft liegt Ihrem Entwurf zugrunde?

Die Unterscheidung zwischen Natur und gebauter Umwelt halten wir für veraltet. Wir sind der Meinung, dass dieses modernistische Weltbild nicht mehr in unsere Zeit passt. Mensch und Umwelt sind nicht zwei getrennte Dinge sondern (im Idealfall) symbiotisch miteinander verbunden.

In unserer städtebaulichen Vision für das Jahr 2050 bildet das Dorf Urleben einen Knotenpunkt innerhalb eines regionalen Netzwerkes aus verschiedenen Ortschaften. Jede Ortschaft übernimmt bestimmte Aufgaben, um den regionalen Bedarf an Versorgungs-, Bildungs- und Kultureinrichtungen zu decken. Somit wird aus der Dorfgemeinschaft Seltenrain eine Art „horizontale Metropole“ (vergl. Paola Viganò, extended urbanity across regions), die sich als auf Teilhabe basierende Gemeinschaft für zukünftige Aufgaben rüstet und widerstandsfähiger gegenüber Wachstums- oder Schrumpfungstendenzen ist.

Aber auch die „Landschaft“ bildet ein Netzwerk. Im Vordergrund stehen die (Re-)Naturierung der Gewässerläufe sowie der Ausbau eines wartungsarmen Rad- und Wanderwege-Netzwerkes mit guter Anbindung an die Waldgebiete „Sonder“ und „Großer Horn“ im Norden und an das südlich gelegene Unstruttal. Die Wege werden mit subventionsfähigen Feldrainen gesäumt, welche die räumlich-landschaftliche Qualität erhöhen und die Biodiversität fördern. In Anlehnung an das „Keyline“-Prinzip werden Pfade, die entlang von Höhenlinien verlaufen, durch lineare Versickerungsmulden begleitet. Dadurch fließt das Regenwasser weniger schnell ab und die Feuchtigkeit bleibt länger im Boden erhalten. So wird aus der „Landschaft“ eine ökologisch nachhaltige „Landschafts-Infrastruktur“.

Dieses Landschaftsnetzwerk dient dem Menschen als Erholungs- und den Tieren als geschützter Lebens- und Bewegungsraum. Dorf- und Landschaftsnetzwerk können als zwei ineinander verwobene Systeme betrachtet werden, die sich gegenseitig bereichern.

Grüne Infrastruktur, Wasserpfade und Siedlungsnetzwerk (Zeichnung: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Mobilitätsnetzwerk (Zeichnung: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Wie organisieren Sie den Ort?

Urleben ist so dicht bebaut, dass Umnutzung und Sanierung nur eine mögliche Transformation darstellen kann. Die Wohnbedürfnisse sind zudem vielfältig (Wohnen im Grünen, Leben in Selbstversorgung, generationsübergreifendes Wohnen u.a.) und benötigen unterschiedliche Räume um realisiert werden zu können. Neben der Dorfmittenentwicklung sind deshalb neue Bauflächen notwendig. Diese werden entlang des vorhandenen Straßennetzwerks, bevorzugt in der Nähe von Bushaltestellen, ausgewiesen. Die Erschließung der Grundstücke wird mit ökologischen und sozialen Auflagen verknüpft (zum Beispiel regenerative Mikrolandwirtschaft oder integrative Wohnprojekte). Die Neuausweisung von Grundstücken darf zu keiner weiteren Verödung und Zersiedlung der Landschaft führen.

Wie auch immer sich die Landwirtschaft rund um Urleben entwickeln wird, das neue Wege- und Landschaftsnetz schafft mit Hilfe von Säumen und Wegerändern eine ökologisch wertvolle Struktur (Biotopvernetzung), innerhalb der sich die Landwirtschaft frei und innovativ entfalten kann. So entsteht ein lebendiges Kulturlandschaftsmosaik.

Rückbau (Axonometrie: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Deparzellierung (Zeichnung: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
An welche Wohnformen denken Sie?

 Neben Familienwohnungen und Singlehaushalten gibt es auch Bedarf an neuen gemeinschaftlichen Wohnformen. Diese stellen eine kostengünstige Alternative dar und ermöglichen neue Qualitäten wie z.B. vielfältige Freiräume, Arbeitsteilung, gegenseitige Fürsorge und Fahrgemeinschaften. Gemeinschaftliche Wohnformen könnten Wohngemeinschaften, kleine Ankunftssiedlungen, soziale Wohnprojekte, Mehrgenerationenwohnen oder Baugruppen realisiert durch Privatpersonen, Vereine, Genossenschaften oder städtische Wohnungsbaugesellschaften sein. Finden sich genügend Projektpartner*innen, sind Sanierungen und Umbauten von Scheunen dafür geeignet. Der architektonische Charme und die grundsätzliche Herangehensweise Bestand zu erhalten sind wichtige Parameter. Diese müssen gegenüber den Anforderungen wie Brandschutz, Barrierefreiheit und EnEV abgewogen werden.

Der Außenraum gewinnt gegenüber dem privaten Innenraum an Gewicht. Viele Dinge können wir in Zukunft auch im Außenraum tun, weil wir nicht mehr von Kabeln und Steckdosen abhängig sind. Das digital vernetze Wohnen und Arbeiten in den „eigenen vier Wänden“ ist weitestgehend statisch und kann auf engstem Raum stattfinden. Der Freiraum, das Leben in und mit der Natur, bildet dazu das räumliche und atmosphärische Gegenstück. Private Innenräume verschmelzen so mit dem Garten zu neuartigen Wohntypologien.

Mehrfamilienvilla (Axonometrie: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Ferienarchitektur (Axonometrie: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Was würde die Qualität des neuen Urleben ausmachen?

Urleben wäre Teil einer neuen, vielfältigen, lebendigen und vernetzten Kulturlandschaft, die heutigen wie auch zukünftigen Bewohner*innen genügend Raum lässt, eigene Ideen von Zusammenleben zu erproben und umzusetzen. Bürger*innen wären in der Lage ihren Ort selbst mitzugestalten, anstatt sich anderswo ins gemachte Nest zu setzen. 

Ein nahegelegener Teil der Landwirtschaft wird in Kooperation mit der Genossenschaft und der Bevölkerung betrieben und sorgt so für eine lokale Produktion an Nahrungsmitteln. Durch die Digitalisierung ist die sonstige Versorgung deutlich einfacher und Home-Office-Angebote bringen junge Menschen dazu sich für Urleben und gegen Frankfurt, Leipzig oder Berlin zu entscheiden. Durch die Renaturierung entstehen einzigartige Landschaften, die auch für Touristen zum Highlight werden.

LANDGUT 2050 vernetzt · mobil · digital (Visualisierung: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau mit Alex Wall)
Wird ein Rahmenplan beauftragt?

Die Jurysitzung war erst vor wenigen Wochen. Wir werden uns nun in Ruhe mit den lokalen Akteur*innen zusammensetzen und über mögliche weitere Schritte sprechen. Idealerweise kommt ein partizipatorischer Prozess zu Stande um einerseits gemeinsame Ziele zu formulieren und andererseits konkrete Projekte anzustoßen.

LANDGUT 2050 vernetzt · mobil · digital
Offener Ideenwettbewerb
 
Auslober/Bauherr: Stiftung Baukultur Thüringen, Weimar
 
Jury
Prof. Dr. Gerd Zimmermann, Vors. | Prof. Dr. Sigrun Langner | Frank Baumgarten | Frank Emrich | Prof. Dr. Ignacio Borrego | Tobias Haag | Silvia Hennig | Sarah Laubenstein | Dr. Techn. Elisabeth Leitner | Frank Juffa | Norbert Zitzmann | Dr.-Ing. Stephan Jung
 
ein 1. Preis
Architekt: KOPPERROTH - Architektur und Stadtumbau PartG mbB, Berlin
Architekt: Prof. Alex Wall, Cambridge (US)
 
ein 1. Preis
Architekt: BudCud, Kraków (PL)
Architekt, Künstler: naito, Dresden
Landschaftsarchitekt: Berthold Flieger, Salem

Andere Artikel in dieser Kategorie