Ernste Stille

Simone Boldrin Architettura
22. März 2023
Modell (Foto: Simone Boldrin Architettura)
Auf dem Friedhof in Mannheim-Seckenheim soll die vorhandene Trauerhalle aufgrund statischer und energetischer Probleme abgerissen werden und durch einen Neubau ersetzt werden. Wie haben Sie die Wettbewerbsaufgabe interpretiert?

Den Ort für die Trauerhalle gibt es ja schon, mit ihm bereits eingeschriebenen Wegeverbindungen und Bedeutungszusammenhängen. Der Raum liegt auf der Schnittstelle der Anbindung von neuem zu altem Friedhofsbereich und fungiert räumlich als Scharnier.  Der Ort brauchte ein Zentrum.  Da galt es zunächst, die Trauerhalle korrekt auszurichten und in diese Rolle einzubinden. Wir haben etwas einfügen wollen, das maximal selbstverständlich wirkt, fast so, als sei es schon immer da gewesen. Und gleichzeitig ganz neu. So, als würde eine lange schon gestellte Frage endlich beantwortet. Die Besucher werden durch Torbogen und Einfahrt beidseitig zum Gebäude geleitet. Diese Führung wird von den Portici aufgegriffen und fortgeschrieben. Sie sind eine wesentliche Raumsequenz der Mediation zwischen Außen- und Innenraum. Ein Filter zwischen dem harten Licht außen und der Stille aus Lehm innen.  Hier wird Licht gefiltert, Geschwindigkeit genommen, Ruhe vorbereitet. Gleichzeitig bieten die Portici sommers wie winters Schutz vor der Witterung und können den Friedhof um einen Ort des Verweilens und Rastens bereichern. In einer Achse zur Platzmitte hinter dem Haupttor liegen die zwei lateralen Haupteingänge in die Trauerhalle. Sind sie geöffnet, durchblickt man alle Raumsequenzen von Platz-Portico-Trauerhalle-Portico-Platz in der Bewegung auf den Eingang zu. Diese Vielschichtigkeit verdichtet die Raumeindrücke und verlangsamt unseren Schritt. Wir machen uns bereit, einzutreten.

Lageplan (Zeichnung: Simone Boldrin Architettura)
Welche Vorstellung von Trauer und Abschied liegt Ihrem Entwurf zugrunde?

Wir sehen den Tod nur bedingt als Abschied. Wir interpretieren ihn vor allem als wesentlichen Schritt im Zyklus des Lebens. Wir wollten den Raum daher so essenziell halten wie möglich: Erde und Holz, (- das Materielle, der Leib) und Luft und Licht (- das Immaterielle, der Geist). Dieses Konterpaar allein scheint den Raum zu erschaffen. Darauf reduziert sich eigentlich Alles.

Blick auf die Fensterrose (Visualisierung: Simone Boldrin Architettura)
Wie organisieren Sie die Trauerhalle?

Der Raum hat eine Größe von 9x12m und wird von beiden Seiten betreten. Er ist in seiner zweiten Achse gleichzeitig Mittelpunkt der Plätze, zu denen er orientiert ist und die er verbindet. Es gibt aber ein klar signiertes Zentrum im Raum, und zwar den Ort unter dem Oculus auf Höhe des dritten Pfeilers. Hier liegt der Sarg. Das Besondere an der Trauerhalle wird sein, dass sie niemals leer erscheinen wird. Jede Trauergemeinde - ganz unabhängig davon, ob 12, 90 oder mehr Menschen teilnehmen - formiert sich geometrisch kompakt direkt um dieses Zentrum aus Licht. Die Nähe der Gemeinschaft bestimmt die Atmosphäre und erschafft einen Raum im Raum. Chor und Orgel sind in unmittelbarer Nähe vor der Rückwand platziert. Die Bänke in den Nischen hingegen geben dem Raum Ruhe. Als Einzelner würde man stets hier Platz nehmen wollen, um die Stille auf sich wirken zu lassen. In der Rückwand hinter dem Chor befindet sich eine „Tapetentür“ in den Altbau. In einem räumlich-funktionalen Kontinuum wird dieser integriert und hält hinter der Tür zwei großzügig belichtete Räume vor. Es gibt zudem einen Nebeneingang über den Altbau, eine Tür vor Kopf des nördlichen Portico. Diese führt auf den Korridor des Altbaus und kann von den Mitarbeitern als Personaleingang oder - bei besonders unfreundlicher Witterung - als sicherer Windfang auch von den Trauergästen genutzt werden. Vor Kopf des Bestandskorridors ist eine große Tür in die neue Trauerhalle platziert, die auch bei der Niederlegung des Sarges genutzt werden kann.

Grundriss (Zeichnung: Simone Boldrin Architettura)
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?

Zunächst haben wir uns mit dem Problem befasst, eine sakrale Höhe für den Innenraum zu generieren. Der First des denkmalgeschützten Altbaus durfte nicht überschritten werden, viel Spielraum hatten wir also nicht. Wir haben die Grundgeometrie in ihrer Proportion so gewählt, dass der Raum möglichst hoch wirkt. Interessanterweise war das mit 9x12m das Pythagoräische Dreieck. Die geometrische Verschneidung der beidseitigen Portici mit dem Tonnengewölbe gibt zudem einen Einblick in die Tiefe der Mauerwerkskonstruktion. Die gedrängte Masse lässt die Wölbung des Hohlraums als ihren Konterpart dementsprechend stärker und damit auch etwas größer wirken. Das architektonische Thema des Entwurfs ist das Licht. Durch den Oculus im Tonnengewölbe blickt man direkt in den Himmel, ein steter, vertikaler Lichtschein fällt in ernster Stille von dort herab. Und dann gibt es die große Fensterrose in der südwestlichen Giebelwand, die ein kreisendes, warmes Tageslicht in den Raum leitet. Die Kombination führt zur Einzigartigkeit aller Lichtstimmungen: das dynamische Zusammenspiel aus bewegtem und stetem Licht erfindet den Raum in jedem Moment und für jedes Ereignis neu, wie in einem ewigen Tanz.

Zenitlicht (Visualisierung: Simone Boldrin Architettura)
Welche Materialstrategie schlagen Sie vor?

Wir erreichen Nachhaltigkeit durch passive Maßnahmen und nutzen dabei die bauphysikalische Trägheit der Konstruktion. Gleichzeitig betont die Masse des Gebäudes auch seine Schutzfunktion, einer kleinen Gemeinschaft so etwas wie Introvertiertheit zu ermöglichen. Von außen ist der Bau geprägt von den monolithisch gemauerten Portici und der Mauerschale am Giebel aus regionalem, rotem Mainsandstein. Dieses Schmuckmaterial des Altbaus wird zur umfassenden Außenhülle des Neubaus. Die Trauerhalle kommuniziert ihre Rolle in der Sprache der Architektur und bestätigt Gästen das Moment ihrer Ankunft.

Hinter der roten Schale aus Sandstein dient ein ungefüllter, zum Innenraum hin mit einem dicken Lehmputz versehener Hochlochziegel als gleichzeitig tragende und dämmende Hülle. Infrarot-Register in den Seitenwänden liefern schnell und energiearm eine angenehme Strahlungswärme. Diese hält sich auf lange Zeit in den massiven Bauteilen und geht nicht gleich wieder verloren. Die notwendige Energie könnte beispielsweise über flächige Geothermie-Register unter den beidseitigen Plätzen gewonnen werden. Der Innenraum besteht nur aus Erde und Holz. Die Reduktion der Materialen inszeniert den spirituellen Moment.

Ein einfaches, gedämmtes Sparrendach mit Ziegeldeckung dient als Witterungsschutz und dämmende Hülle für die darunter liegende Tonnenkonstruktion des Innenraums. Das Gewölbe besteht aus diagonal zu den Stützenköpfen spannenden Holzbindern, die mittels einer Bretterschalung und Schilfmatten einen Dickputz aus Lehm tragen. Der Lehmputz sorgt für ein angenehmes Raumklima und kann Feuchte-Lasten optimal abpuffern. Dach und Wand gehen damit sowohl geometrisch als auch im selben Material ineinander über, selbst der Boden besteht aus Stampflehmestrich. Alle eingesetzten Materialien - ein heimischer Sandstein, HLZ-Ziegel, Lehm, Schilf, Holz - sind in jeder Hinsicht ökologisch und werden über ihren gesamten Stoffkreislauf von „cradle to cradle“ geplant.

Ansichten (Zeichnungen: Simone Boldrin Architettura)
Gibt es schon einen geplanten Fertigstellungstermin?

Ein geplanter Fertigstellungstermin ist uns noch nicht bekannt. Wir sind da sehr gespannt und neugierig. Dieses Projekt hat das Potential dazu, sehr effizient geplant, ausgeführt und gebaut zu werden, da sind wir uns sicher. Der Entwurf ist mit Präzision und Reduktion konzipiert. 

Der nächste Schritt ist eine kooperative und konstruktive Zusammenarbeit mit der Bauherrenschaft. Eine gelungene Kooperation zwischen diesen beiden Figuren wird ein zielgenaues Ergebnis hervorbringen.

Modell (Foto: Simone Boldrin Architettura)
Neubau Trauerhalle in Mannheim-Seckenheim
Einladungswettbewerb
 
Auslobung: Stadt Mannheim, Friedhöfe Mannheim
Betreuung: scheurer architekten, Freiburg
 
Jury
Prof. Ludwig Wappner, Freier Architekt, Stadtplaner, München (Vors.) | Prof. Peter Krebs, Freier Architekt, Karlsruhe | Bernhard Wondra, Freier Architekt, Mannheim | Harald Thiele, Dipl.-Ing. Architektur, Stadt Mannheim | Prof. Dr. Diana Pretzell, Bürgermeisterin Dezernat V | Andreas Adam, Betriebsleiter Friedhöfe, Stadt Mannheim | Evi Korta-Petry, BBR Seckenheim, Förderverein Seckenheim
 
1. Preis
Simone Boldrin Architettura, Berlin
Mitarbeit: Miguel Setas, Davide Zucchini, Maximilian Greiner, Luis Klocke
Beratung Nachhaltigkeit: Konrat | Anke Wollbrink
 
2. Preis
Kaupp + Franck Architekten GmbH, Mannheim
 
3. Preis
Mireille Solomon, Architektin, Mannheim

Andere Artikel in dieser Kategorie