Meisterliches in Weil am Rhein

Christian Holl
24. April 2013
Außenansicht SANAA (Foto: Christian Holl) 

Rolf Fehlbaum, der Kopf von Vitra, ist fasziniert SANAA, weil sie frei seien von verkrampftem Formalismus und moralisierendem Minimalismus. Was er damit meint, zeigt sich am Grundriss der in zwei Etappen errichteten und nun fertiggestellten Produktionshalle auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein. Er hat eine an einen Kreis erinnernde Form, die nicht der geometrischen Gleichmäßigkeit folgt. Die feinen Unregelmäßigkeiten werden mit dem Kontext, den funktionalen und organisatorischen Anforderungen dieses Produktionsgebäudes begründet; vor allem aber zeugt der freie und ungezwungene Umgang mit der Kreisform von der außergewöhnlichen Souveränität der japanischen Pritzker-Preisträger. Die runde Form hat mehrere Vorteile: Sie erleichtert das Rangieren der LKWs, minimiert die Außenfläche, ist für die Bewohner der benachbarten Bebauung angenehmer. Das Gebäude ist ein erstaunlicher Umgang mit der Aufgabe einer Produktionshalle, die zu einem großen Teil wie ein Lager genutzt wird: auf 20.000 Quadratmetern arbeiten gerade mal hundert Menschen. Hell ist es im Innern dank der dichter als üblich aufeinander folgenden Oberlichtbänder, die dafür schmaler sind, als es normalerweise der Fall ist; der Stromverbrauch reduziere sich so um erstaunliche sechzig Prozent, hieß es.

Innenansicht vor der Befüllung der Regale (© Nicole Berganski) 

Bis auf die Heizkörper ist alles, was zur Decke gehört, weiß; ein Tragwerkskonzept, das Aussteifung über die Außenwände vorsieht, gestattet schlanke Stützen in einem Raster von 17,5 mal 22,8 Metern. Dass hier ein gesetzter Kostenrahmen eingehalten wurde, ist glaubhaft, bei aller Leichtigkeit ist die Halle im Innern unprätentiös und frei von der Aufgabe aufgezwungenem Gestaltungsdrang. Die Fassade, auch sie strahlend weiß, ist von unvergleichlichem Raffinement. Von einem Vorhang inspiriert, sind mit einer weißen Schicht versehene Plexiglasbahnen so in verschiedenen Wellenlinien geformt, dass sie wie zufällig erscheinen; die 11,3 Metern langen Paneele sind auf einen Aluminiumrahmen geklebt und dieser an der tragenden Wand befestigt; dadurch sind von außen keine Befestigungselemente sichtbar, die Fassade scheint sich ohne Unterbrechung um das Gebäude zu legen. Der Übergang in Landschaft und Himmel, die Leichtigkeit des größten Baus auf dem Gelände scheint mühelos gelungen und war doch harte Arbeit.

Louis Kahn im Auditorium des Kimbell Art Museum, 1972 (© Kimbell Art Museum, Foto: Bob Wharton) 

Wenige Schritte von der neuen Halle entfernt ist noch bis zum 11. August das Werk von Louis Kahn zu studieren. Gerade als Kontrast zum Neubau von SANAA zeigt sich in dieser so anderen Art, Architektur zu verstehen, der wunderbare Reichtum der Architektur. Dicht ist die Ausstellung im doppelten Sinne: die Fülle von Material, Zeichnungen, Modellen, Skizzen, Studien, Fotos, Filmen, Briefen und Zeitdokumenten ist im Gehry-Bau eng gedrängt präsentiert. Der im heutigen Estland geborene, aber schon früh mit den Eltern nach Amerika emigrierte Architekt gründete 1935 sein eigenes Büro, der internationale Durchbruch gelang ihm gleichwohl erst mit dem 1960 fertig gestellten Richards Medical Research Building in Philadelphia. In intensiver Zusammenarbeit mit Ingenieuren hatte Kahn eine Sprache entwickelt, die elementare Formen zu komplexen Raumkompositionen und beeindruckenden Lichtchoreografien fügt. In seinem Werk verbinden sich elementiertes Bauen mit einem tiefen Sinn für die Eigenheiten des Materials, wissenschaftliches Denken mit geschichtlichen Referenzen, kraftvolle Archaik mit einem poetischen Raumverständnis. Die Bezüge zu Antike, Claude Lorrain, Barockgärten und surrealistischer Malerei, die er in sein Werk aufnahm, die Bedeutung, die er der Form zumaß, machte ihn zu einem, von dem sich postmoderne Architekten, insbesondere James Stirling inspirieren ließen. Dies mag den Blick auf ihn etwas eingeschränkt haben, völlig ungerechtfertigter Weise, wie die Ausstellung zeigt. Nicht zuletzt die wunderbaren Zeichnungen, Aquarelle und Pastellkreidearbeiten dürften selbst den Kenner von Kahns Werk überraschen – und begeistern. Auch von ihm wurde übrigens gerade erst ein Gebäude fertiggestellt: dem Franklin D. Roosevelt Four Freedoms Park in New York hat man die postume Realisierung gegönnt; er wurde 2012 eröffnet.

Bibliothek, Phillips Exeter Academy, Exeter, New Hampshire, Louis Kahn, 1965–72 (© Iwan Baan) 

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