Ein Haus, ein Jahrhundert

Ursula Baus
24. April 2013
Plakat zum Film

Die Familie hatte sich ein kleines Haus mit fünf Zimmern gewünscht, aber mit der Wahl des Architekten Mies van der Rohe kam alles anders. Im Film wird die Geschichte der Villa Tugendhat im tschechischen Brünn dezidiert auch als Familiengeschichte über vier Generationen erzählt und en passant ein Panorama des 20. Jahrhunderts aufgespannt. Die Bauherren Fritz und Grete Tugendhat – letztere war Tochter eines in Brünn ansässigen Textilfabrikanten – ließen Mies van der Rohe weitgehend freie Hand, und mit welcher gestalterischen und technischen Konsequenz der ans Werk ging, ist hinlänglich bekannt. Dem Regisseur Dieter Reifarth geht es deswegen weniger um Mies, als vielmehr um die Spuren der Zeitläufte, die das Haus – fast – zerstörten und heute in einer von Experten hergestellten Rekonstruktion mit Originalteilen hinterlassen. 
Zu Wort kommen Vertreter aller Gruppen, die mit dem 1930 gebauten Haus zu tun hatten. Die Kinder Ernst, Ruth und Daniela, die vor den Nationalsozialisten nach Venezuela flohen und später in der Schweiz lebten, sowei zwei der Enkel; außerdem Kindermädchen, Bedienstete und spätere „Nutzer“: eine Vertreterin der Familie Messerschmidt (Klöckner Flugmotorenwerke), die nach Tugendhats die Villa bewohnte und darin eine Bauernstube einrichtete; Kinder, die in dem anschließend hier eingerichteten physiotherapeutischen Zentrum genesen sollten – gerade sie behielten die Großzügigkeit und Lichtfülle des Hauses in bester Erinnerung. Die Villa war auch mal Gästehaus für hochrangige Stadtgäste, und 1992 verhandelten hier Václav Klaus und Vladimir Meciar über die Aufteilung des Landes in Tschechien und Slowakien.
 Das Haus litt über die Jahrzehnte unter unpassender Nutzung und unfachmännischen Renovierungsarbeiten, stand aber seit 2001 auf Unesco-Welterbeliste. Daniela Hammer-Tugendhat war inzwischen Kunsthistorikerin und mit dem Denkmalexperten Ivo Hammer verheiratet, der sich um die jüngste, sorgfältige Renovierung – besser gesagt: Rekonstruktion mit Originalteilen kümmerte. Am 29. Februar 2012 wurde das Haus wiedereröffnet und kann jetzt besichtigt werden.
 Michael Guggenheim, Sohn der Psychoanalytikerin Ruth Tugendhat, verheiratete Guggenheim, sagt im Film deutlich, dass die Familie hier eigentlich keine Ansprüche mehr hat: „Wer berühmt ist, gehört nicht mehr nur sich selbst.“ So sieht es auch der Philosoph Ernst Tugendhat. Ob das allerdings so weit führen darf, dass das Haus als Filmkulisse fragwürdiger Kinostreifen herhalten muss oder mit der Familie nicht abgesprochene „Nacherzählungen“ verfilmt werden – das muss man bezweifeln. 
Bemerkenswert ist am diesem – nur manchmal etwas langatmigen – Dokumentarfilm, wie Bau-, Familien- und Weltgeschichte so ineinander verwoben werden, dass man die Zeitgebundenheit als Architekturqualität bestens begreift. Fritz Tugendhats 16mm- Schwarzweißfilme, zahlreiche Filmsequenzen aus späteren Zeiten und viele Fotografien vergegenwärtigen die Geschichte einer Architektur, die den Erbauern nichts aufgedrängt hatte – was gelegentlich behauptet wird –, sondern deren Lebensgefühl entsprach.

Das Filmcover (Bild: Pandora Film) und eine Filmsequenz aus der Renovierungszeit 

Ein Dokumentarfilm von Dieter Reifarth (Buch, Schnitt und Regie), 116 Minuten.
Produktion strandfilm in Coproduktion mit Pandora Film – Reinhard Brundig in Zusammenarbeit mit ZDF/3sat – Inge Classen, HD-Kamera Rainer Komers, Film-Kamera (Architekturaufnahmen) Kurt Weber.
 Ab 30. Mai im Kino.
Zum Trailer geht es > hier

Wunderschöne Überlagerungen alter Familienfotos und aus gleichen Positionen neu aufgenommer Fotografien von Dirk Brömmel finden Sie > hier.

Haus Tugendhat (Bild: Dirk Broemmel) 

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