Pilotprojekt «Heimatwerker» in Nieheim

Oliver Pohlisch
30. September 2016
Das sanierungsbedürftige Ackerbürgerhaus in der Nieheimer Lüttgestraße. (Bild: Sebastian Becker)

144 Menschen sind im zurückliegenden Jahr aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea ins rund 6250 Einwohner zählende Nieheim im Weserbergland geflüchtet. Eine überschaubare Zahl. Doch die Gemeinde stellte sich bei der Unterbringung der neu Angekommenen zunächst äußerst ungeschickt an und geriet darüber sogar bundesweit in die Schlagzeilen: Rainer Vidal, der parteilose Bürgermeister Nieheims, hatte vergangenen Herbst per Einschreiben einer Mieterin einer kommunalen Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder sollte nach 16 Jahren aus dem dreigeschossigen Haus im Ortskern ziehen, weil die Kommune es als Flüchtlingsunterkunft nutzen wollte.

Die öffentliche Empörung gegen diesen Schritt gipfelte in Drohungen und Hass-Mails gegen den Bürgermeister, die Polizei musste gerufen werden. Die Mieterin legte Widerspruch gegen ihre Kündigung ein und das Rathaus machte im Frühjahr einen Rückzieher – mit der Begründung, dass sich die Situation geändert habe. Weniger Geflüchtete seien gekommen als erwartet und andere Möglichkeiten der Beherbergung hätten sich aufgetan, so Vidal gegenüber dem Westfalen-Blatt.

War der versuchte Rausschmiss der Mieterin nicht gerade dienlich für die Absicht, ein positives Klima für die Begegnung zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten zu schaffen, lässt sich das von einer anderen Maßnahme der Kommune gewiss nicht sagen: In den kommenden zwei Jahren wird in Nieheim ein leer stehendes Ackerbürgerhaus saniert und umgebaut - von Menschen, die jüngst zugezogen sind, gemeinsam mit solchen, die schon länger in der Stadt leben. Am 26. September war Startschuss, so die Regionalzeitung Die Glocke. Das Vorhaben ist das Pilotprojekt des Programms «Heimatwerker», das einen Beitrag zur Integration von Geflüchteten leisten soll. Auf den Weg gebracht wurde «Heimatwerker» von StadtBauKultur NRW, einer Initiative, die das Bewusstsein und Engagement für die Baukultur in dem größten deutschen Bundesland fördern soll.

Vier Nieheimer Neubürger auf einer Bank vor dem Ackerbürgerhaus. (Bild: Sebastian Becker)

In Nieheim ist auch die Hochschule Ostwestfalen-Lippe mit von der Partie. Studierende des Fachbereichs Architektur und Innenarchitektur in Detmold begleiten die Sanierung und unterstützen die Geflüchteten und Ehrenamtlichen aus Nieheim bei den Bauarbeiten.

Gegenüber dem Westfalen-Blatt erklärte Oliver Hall, Professor für Stadtplanung und Städtebauliches Entwerfen: «Wir beschäftigen uns im Bereich der Forschung schon länger damit, wie man den Leerstand bekämpfen und dem Schrumpfen der Ortschaften begegnen kann.» Die Nieheimer Liegenschaft sei typisch für viele Ackerbürgerhäuser. Die «schöne Altbausubstanz» sei schwer veräußerbar und stehe deshalb vielerorts leer. «Wir wollen es mit dem Bedarf verbinden: Wir haben eine große Zuwanderung von Menschen, die hier bleiben und arbeiten wollen – das ist eine optimale Zusammenführung.»

Die Baukosten in Höhe von 426'000 Euro werden zu 70 Prozent vom Land Nordrhein-Westfalen und zu 30 Prozent von der Kommune getragen. Da die Arbeiten angeleitet und koordiniert werden müssen, stehen 145'000 Euro für Personalkosten bis zum Ende des Jahres 2018 zur Verfügung. Zusätzliche Kosten für Organisation, Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen und Dokumentation werden von der Landesinitiative StadtBauKultur NRW selbst übernommen. Für die langfristige Nutzung des Gebäudes will man weitere Fördergeber und Sponsoren gewinnen.

Ein Beitrag für die Entwicklung Nieheims

Die baufällige Immobilie wird von einer Erbengemeinschaft zunächst für zehn Jahre kostenlos und ohne wirtschaftliche Gewinnabsichten zur Verfügung gestellt. Die Eigentümer haben sich die sozialen und kulturellen Ziele des Projektes zu eigen gemacht und wollen so einen Beitrag für die Entwicklung Nieheims leisten.

Fest steht, dass das Ackerbürgerhaus nach Ende der Sanierung ein Ort der öffentlichen Begegnung werden soll. Umgebaut wird zunächst das 230 Quadratmeter große Erdgeschoss des Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Gebäudes in der Lüttgestraße, im historischen Ortskern Nieheims. Dort wäre Platz etwa für Seminarräume, in denen Sprachkurse angeboten werden, ein Café, eine Bibliothek oder eine offene Werkstatt. Am Samstag, den 1. Oktober wird eine von den Studierenden mitorganisierte Ausstellung zur künftigen Nutzung eröffnet. Visualisiert werden hier die aus Gesprächen mit und unter Nieheimern – egal ob Zugezogene oder Alteingesessene – abgeleiteten Ideen. Das erste Stockwerk sowie das Dachgeschoss könnten später für Wohnungen hergerichtet werden.

Die Landesinitiative StadtBauKultur sieht den Bauprozess als Gelegenheit, bei der die soziale Integration von Geflüchteten durch gemeinsame Arbeit mit Einheimischen vorangetrieben werde. Erstere könnten auf diese Weise auch berufliche Qualifikationen erwerben und in Ausbildungs – oder Arbeitsplätze gelangen – in regionalen Bauunternehmen, denen es oftmals an Azubis mangelt. So eröffne sich eine Bleibeperspektive für die Menschen. Nicht zuletzt schütze das «Heimatwerker»-Programm auch «historische und stadtbildprägende Bausubstanz», heisst es auf der dazugehörigen Webseite, die über das Nieheimer Vorhaben auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi informiert.

Das Pilotprojekt hat eine Gesamtlaufzeit von 10 Jahren und soll bei Erfolg auch auf andere Kommunen übertragen werden. Und tatsächlich könnte Nieheim mit der Ackerbürgerhaus-Sanierung ein Vorbild für andere ländliche Gemeinden sein, wenn es darum geht, Geflüchtete in die eigene Mitte zu nehmen, statt sie perspektiv- und beschäftigungslos an den Rand zu drängen.

Blick auf Nieheim. (Bild: Sebastian Becker)

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