Obdachlosigkeit in die Wahrnehmung geholt

Manuel Pestalozzi
25. Oktober 2022
Die Neonskulptur der Künstlerin Fanny Allié will sich mit der Unsichtbarkeit und Entmenschlichung von Obdachlosen in München auseinandersetzen. Doch sie stellt auch die Frage: Wer hat welche Ansprüche an den öffentlichen Raum? (Foto: © Jakob Bahret)

Der Titel in Englischer Sprache soll wohl darauf hindeuten, dass das Thema ein globales ist und Gemeinschaften in allen Gegenden des Globus beschäftigt. Wer ist die oder der nächste? Diese Frage möchte die Allgemeinheit daran erinnern, dass die Obdachlosigkeit jede und jeden treffen kann. Der Schwerpunkt liegt in diesem Fall in urbanen Ballungsgebieten und bei der sozial bedingten Obdachlosigkeit. 

Man fragt sich spontan, ob der Kreis nicht weiter hätte gezogen werden müssen; seit der Wetterkatastrophe im Ahrtal ist auch in Deutschland akut und hinlänglich bekannt, dass das Schicksal Obdachlosigkeit überall, unerwartet und sehr schnell zuschlagen kann. Es macht aber den Anschein, dass in der Ausstellung der Fokus bei den längerfristigen, „strukturellen“ Obdachlosen liegt, die aus oft nicht einfach zu erklärenden sozialen Gründen in bestimmte urbane Großräume ziehen und unbehaust sind. Menschen, denen ein Status zugesprochen werden muss, welcher kollektive Maßnahmen ermöglicht, zwecks Bewältigung der dadurch verursachten Probleme. Und Probleme stellen für die betroffenen Städte ganz jenseits moralisch-ethischer Belange tatsächlich: Hygiene, die Belegungen und Nutzungsweisen des öffentlichen Raums und der Anspruch auf urbane Anonymität sind drei, die besonders schnell im Gedächtnis auftauchen. Zwischen Obdachlosen und Behausten besteht ein starker Kontrast und eine strenge Abgrenzung, die schnell zu einer Ausgrenzung zu werden droht. Diese äußert sich auf einer ganz praktischen Ebene bei dem gegensätzlichen Verhältnis von Verbindlichkeiten und Unverbindlichkeiten zwischen Behausten und Obdachlosen.

Die Ausstellung „Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ wurde von dem Kurator Daniel Talesnik für das Architekturmuseum der Technischen Universität München (TUM) konzipiert, das MK&G ist ihre zweite Station. Sie dokumentiert die Situation von Obdachlosen in den acht internationalen Metropolen Los Angeles, Moskau, Mumbai, New York, São Paulo, San Francisco, Shanghai und Tokio, wie auch in nicht weniger als zehn deutschen Städten. Ergänzt wird diese Zustandsaufnahme durch eine Bibliothek und Dokumentarfilme.

In San Francisco in den USA wurde 2020 ein erstes Zeltlager für Obdachlose in der Fulton Street befristet genehmigt. Es liegt in der Zentralachse des Rathauses und gruppiert sich um das Pioneer Monument. (Foto: © Christopher Michel)
Architektonische Lösungen

Wichtiger Teil der Ausstellung sind architektonische Lösungen, die Menschen zumindest temporär aus der Obdachlosigkeit holen. Oft geht es darum, bestehende Bauwerke für ein bescheidenes Wohnangebot herzurichten. Als neues Modell für gelebten Urbanismus wird das sechsstöckige Gebäude „Star Apartments“ vorgestellt. Es befindet sich in Los Angeles‘ Stadtteil Central City East, auch halboffiziell bekannt als „Skid Row“, was so viel wie heruntergekommenes Viertel bedeutet. Das Büro Michael Maltzan Architecture verwandelte 2014 ein Geschäftshaus in einen Komplex mit 102 Wohnungen für Obdachlose.  „Star Apartments“ besteht weitgehend aus vorgefertigten Baumodulen und verbindet Gesundheits- und Sozialdienste, Freizeitaktivitäten und Wohnen.

Ein interessanter Lösungsansatz steht auch im Ostpark in Frankfurt am Main. Hier entstand 2017 unter dem Namen „Lebensraum o16“ ein Neubau für Menschen ohne festen Wohnsitz. Eingebettet ins dichte Grün, bietet die Anlage mit ihrer blau schimmernden Fassade Platz für 150 Obdachlose. Verantwortlich für das Konzept waren der Darmstädter Architekt und Professor Michel Müller und das von ihm und Jessica Coates betriebene Studio MC. Die Architektur basiert auf einer partizipativen Gestaltung. Dadurch konnten die Wünsche und Vorstellungen von Bewohner*innen berücksichtigt werden, heißt es in der Präsentation des Projektes. Aus anonymen Obdachlosen wurden Menschen mit Meinungen und Identitäten, denen im Ostpark „ein Maximum an Normalität und Selbstbestimmung“ gewährleistet wird. Als Beispiel dafür wird der freie Zugang zu den Zimmern über eigene Chipkarten genannt. Was ist hier verbindlich, was unverbindlich? An kulturell und geographischen nahen Beispielen wie dem Ostpark lässt sich beim Besuch der Ausstellung in Hamburg über solche Fragen nachdenken.

Der „Lebensraum o16“ im Ostpark von Frankfurt am Main bietet 150 Obdachlosen eine Übernachtungsgelegenheit. (Foto: © Studio MC)

Einen kleinen Blick in die Ausstellung „Who’s next?“ ermöglicht die bei arte.tv erschienene Besprechung.

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