Neuer Anker für die Wasserstadt
Zwei Baudenkmäler auf dem früheren Continental-Fabrikgelände in Hannover müssen wegen hoher Giftbelastung abgebrochen werden. Max Dudler und Seeberger Walenta Architekten gestalten die Ersatzneubauten. Obwohl der Abriss viele traurig stimmt, fällt das Echo auf den Entwurf positiv aus.
Hannovers Stadtteil Limmer atmet deutsche Industriegeschichte: Im 19. Jahrhundert produzierten die Hannoverschen Gummiwerke Reifen und andere Gummiprodukte, bevor sie 1928 im Traditionsunternehmen Continental aufgingen, das bis heute zu den deutschen Industrieschwergewichten zählt. Das Gelände der historischen Gummi-Kamm-Fabrik erstreckt sich zwischen den Wasserstraßen des Leineabstiegskanals und des Stichkanals Hannover-Linden auf einer Halbinsel. 1999 wurde das Werk stillgelegt, und zehn Jahre später erfolgte der Abriss der Fabrikgebäude – bis auf einen Wasserturm, bemalt mit dem ikonischen Continental-Schriftzug, und eine geknickte Gebäudezeile am Ufer des Stichkanals und entlang der Wunstorfer Straße. Sie besteht aus mehreren Bauten – den Häusern W8, W9 und 1 – und ist denkmalgeschützt.
Seit 2013 wird am Platz der einstigen Industrieanlage die Wasserstadt Limmer gebaut, ein neues Stadtquartier mit Wohnungen und Gewerbeflächen. Der erste Bauabschnitt im südöstlichen Teil des Areals ist inzwischen nahezu fertiggestellt. Für die zweite Bauetappe beim Zusammenfluss der beiden Wasserstraßen wird gerade der Bebauungsplan ausgearbeitet. Der Knackpunkt dabei ist die eben erwähnte Gebäudezeile am Stichkanal, die als letzter industriegeschichtlicher Zeuge noch erhalten ist. Sie steht an der historischen Straßenbrücke, die die Wasserstadt von Westen her erschließt und ebenfalls unter Denkmalschutz steht. Die repräsentativ gestalteten Altbauten haben also neben ihrem Denkmalwert auch eine wichtige städtebauliche Portalfunktion für das neue Quartier. Trotzdem, und obwohl Bürgerinnen und Bürger unverdrossen für ihren Erhalt gekämpft hatten, müssen die Häuser W8 und W9 abgebrochen werden: Die beiden Gebäude sind so hoch mit krebserregenden Umweltgiften belastet, dass die Gesundheitsbehörden keine andere Wahl hatten, als sich für einen Totalabriss zu entscheiden.
Nach dem Entscheid für den Abriss einigten sich die Stadt Hannover und die Grundstückseigentümerin, die Firma Papenburg, auf den Wiederaufbau der historischen Uferbebauung, »und zwar nicht als Rekonstruktion, sondern als zeitgemäße Neuinterpretation der Bestandsgebäude«. Ein Architekturwettbewerb im kooperativen Verfahren wurde ausgelobt, an dem sieben Zweierteams bestehend aus insgesamt 14 Planungsbüros teilnahmen.
Die Aufgabe für die Architektinnen und Architekten lautete, beim Entwurf der beiden Ersatzneubauten wesentliche Gestaltungselemente der historischen Anlage aufzugreifen und neu zu interpretieren. So sollte das neue Haus, das den Bau W8 ersetzt, in Höhe und Dachform seinem Vorgänger entsprechen. Auch die Verwendung von Klinker als Fassadenmaterial – getreu dem historischen Vorbild – war im Wettbewerb vorgeschrieben. Neu hingegen war das Programm: Wohnungen und Gewerbeflächen.
Als Ersatz für den Bau W9 hingegen war ein Entwurf gesucht, der sich weder in Dachform noch Fassadengestaltung und Materialität am historischen Bestand orientieren musste. Vielmehr sollte sich dieser zweite Ersatzneubau in seiner Höhe dem östlich anschließenden Bestandsgebäude 1 unterordnen, »sodass das architektonische Gleichgewicht des Gesamtensembles gewahrt bleibt und die Gebäude W8 und 1 weiterhin eine prägende Rolle in der Gesamtwirkung einnehmen«, wie in der Auslobung stand. Der W9-Neubau musste sich außerdem an die denkmalgeschützte Verbindungsbrücke andocken lassen, die vom Bestandsgebäude 1 herüberführt. Sein Raumprogramm umfasst Büros, einen Kulturtreff und eine Kindertagesstätte.
Vergangenen November fand die Schlusspräsentation statt, und die Jury begann, über die Entwürfe zu beraten. Schließlich vergab sie den ersten Preis einstimmig für den gemeinsamen Beitrag der Architekturbüros Max Dudler und Seeberger Walenta Architekten. Die Juroren loben den Entwurf für seinen klaren und raumgliedernden Städtebau. Denn durch die Positionierung des Neubaus W9 öffnet sich eine Fuge zwischen den beiden neuen Baukörpern zum Ufer des Stichkanals. Der Ersatzneubau W8 orientiert sich mit seinem Volumen und dem prägnanten Mansarddach architektonisch, wie von der Bauherrschaft gewünscht, stark an seinem Vorgängerbau. Seine vertikal streng gegliederte Klinkerfassade vermittle »eine stehende Anmutung«, schreibt die Stadt in ihrer Pressemeldung. Das Erdgeschoss soll mit einem Kulturtreff, einem Restaurant und Geschäften belebt werden. In den Obergeschossen sind ausschließlich Wohnungen geplant.
Der zweite Neubau überzeugt städtebaulich mit einem leichten Knick in der Grundstruktur, welcher auf die angrenzende Bebauung reagiert und visuell in die Fuge zum Kanal überleitet. Die Fassade wurde deutlich abstrakter und großformatiger gestaltet. Dennoch ist die schmuckvolle denkmalgeschützte Verbindungsbrücke zum Bau 1 harmonisch in die Stirnseite des Gebäudes eingebunden.
Auch wenn viele Menschen nach wie vor traurig über den Abriss der historischen Bauten sind, fällt das Echo überwiegend positiv aus. Besonders gefällt einigen die neue Fahrradbrücke, die durch den W8-Neubau und über den Kanal führen wird. Architekt Max Dudler sagt, es sei einmalig, dass ein so großes Gebäude wie das W8 »im Sinne der Moderne« wiederaufgebaut werde.