„Mythische Konstruktionen“ – die unbekannte Baukultur der Südsee
Elias Baumgarten
14. Februar 2022
Foto: Elias Baumgarten
Unser Bild der Kulthäuser Papua-Neuguineas ist unscharf, wenig nur ist über sie bekannt. Doch Michael Hirschbichler hat sie erforscht. Sich Zeit für die Lektüre seiner Dissertation zu nehmen, lohnt sich sehr.
4800 Meter hohe Berge, gewundene Flüsse, undurchdringliche Wälder, ausgedehnte Mangrovensümpfe, schillernd bunte Vögel und handtellergroße Schmetterlinge – Neuguinea ist faszinierend, fremd und geheimnisvoll, zuweilen auch furchteinflößend. Selbst heute, in einer Zeit von Drohnen und Satelliten, ist die Insel aufgrund des unwegsamen Geländes, der dichten Regenwälder und der oft von tief hängenden Wolken durchzogenen Landschaft noch immer nicht vollständig kartografiert. Weitgehend unerforscht ist auch die enorme kulturelle Vielfalt, die weltweit ihresgleichen sucht: Unglaubliche 840 Sprachen wurden auf Neuguinea im Jahr 2000 registriert. Der Reichtum an kulturellen und religiösen Praktiken ist riesig.
Foto: Elias Baumgarten
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Verlorene ZeugnisseNur wenig bekannt ist auch über die traditionelle Architektur Neuguineas. Zu deren faszinierendsten und wundersamsten Bauten gehören die Kult- und Geisterhäuser, die einst Zentren des kulturellen, spirituellen und gesellschaftlichen Lebens waren. Ihre expressive Architektur und ihre soziale Bedeutung waren bisher kaum erforscht, unsere Vorstellung von ihnen war wage. Zudem wurden sie – wie so viele wertvolle kulturelle Zeugnisse weltweit – durch die Kolonialisierung und die christliche Missionierung, aber auch durch die beiden Weltkriege zerstört (die Schlacht um Neuguinea, die von 1942 bis 1945 tobte, war eine der strategisch bedeutsamsten im Pazifikkrieg). So verwandelten sich die Häuser selbst in Geister. Michael Hirschbichler hat nun den Schleier des Unwissens mit „Mythische Konstruktionen“ – seine großartige Dissertation an der Universität der Künste Berlin – etwas gehoben. Er hat sich den Bauten mit einem multiperspektivischen Ansatz angenähert, der Bau-, Architektur- und Raumforschung mit Methoden aus den Kultur- und Sozialwissenschaften verbindet. Ende vorigen Jahres ist seine Arbeit schließlich als Buch beim Berliner Verlag Wasmuth & Zohlen erschienen.
Hirschbichlers Forschung nahm ihren Anfang bereits 2009, als er nach Lae zog, um am Architekturdepartement der dortigen Universität zu unterrichten. Als er Schwarz-Weiß-Fotografien der Kulthäuser in den Gängen der Architekturschule hängen sah und ihm einheimische Kolleg*innen ehrfurchtsvoll von den geheimnisvollen Bauten erzählten, war sein Interesse geweckt. Zunächst zögerlich, bald aber immer intensiver setzte er sich mit den Architekturen und ihrer hochkomplexen soziokulturellen Bedeutung auseinander. Eine Herausforderung war dabei nicht nur, dass die Bauten vielfach gar nicht mehr existieren, sondern auch die richtige Eingrenzung in der schwer zu überblickenden kulturellen Vielfalt Neuguineas vorzunehmen. Denn wie sollte eine ausreichende Detailschärfe garantiert werden, ohne zu sehr auf einzelne Objekte und Praktiken zu fokussieren und darüber die Vergleichbarkeit zu verlieren? Hirschbichler begrenzte sich schlussendlich auf Nord- und Südneuguinea. In Berlin leistete er dann die theoretische Vertiefung seiner auf Neuguinea begonnen Arbeit, wobei er von Matthias Noell und Brigitta Hauser-Schäublin betreut wurde und wertvolle Unterstützung erhielt.
Foto: Elias Baumgarten
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Anspruchsvoll, doch lohnendDas Buch mit grauem Leineneinband und Titelprägung ist übersichtlich und sehr schön gestaltet. Und obwohl auf den Seiten viel Text untergebracht wurde, ist es sehr angenehm zu lesen. Zwei Bildteile auf gestrichenem Papier rahmen die eigentliche Arbeit und machen sofort verständlich, warum die Geisterhäuser Hirschbichler so sehr in ihren Bann zogen. Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert, Zeichnungen und Pläne ergänzen den Text. Hirschbichler gelangt von der Dokumentation und Einordnung zur Theoriebildung. Man lernt in „Mythische Konstruktionen“, dass die Einheimischen auf Neuguinea ihre Umwelt als komplexen Lebensraum auffassten, in dem Menschen und zahlreiche andere Geschöpfe – Verstorbene, Tiere und Pflanzen, aber auch Geister und mythische Wesen – zusammenleben und miteinander interagieren. Kunst und Architektur waren für sie ein Weg, auf diesen einzuwirken. Es ist beeindruckt zu erfahren, wie ungemein dicht das gesellschaftliche Zusammenleben, kollektive Erzählungen, Identität, Riten, Religion, Weltbild und Architektur in Neuguineas Geisterhäusern miteinander verwoben waren. Generell eine wertvolle Erkenntnis: Architektur ist nicht autonom, sie ist Teil eines komplexen soziokulturellen Geflechts.
Als umfangreiche wissenschaftliche Arbeit lässt sich das Buch nicht eben mal konsumieren. Die Texte sind anspruchsvoll, die Sprache ist akademisch, zuweilen aber auch poetisch. Für die Lektüre der über 400 Seiten sollte man genug Zeit, Ruhe und Konzentration mitbringen. Hirschbichler ist es gelungen, eine Lücke in der Architektur- und Kulturforschung ein Stück weit zu schließen. Zugleich dürfte seine Arbeit ein guter Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen sein. Bedeutsam ist sie ferner auch für die kritische Aufarbeitung der Kolonialzeit, die jüngst an Fahrt aufnimmt (Teile der Insel waren ab 1884 Kolonie des Deutschen Reiches). Und das Buch hilft, die im Westen leider noch immer präsente kulturelle Überheblichkeit und Borniertheit zu brechen. Eine ganz klare Leseempfehlung!
Foto: Elias Baumgarten
Mythische Konstruktionen. Kult- und Geisterhäuser Papua-Neuguineas
Michael Hirschbichler
195 x 260 Millimeter
448 Seiten
142 Illustrationen
Leineneinband mit Titelprägung
ISBN 9783803021090
Wasmuth & Zohlen
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