Zum Tod des Doyens der deutschen Architekten Gottfried Böhm

Ein Künstler? Ein Architekt? Ein wahrer Baukünstler!

Falk Jaeger
11. Juni 2021
Gottfried Böhm im Jahr 2015 (Foto: Elke Wetzig, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Sicherlich, die sechziger Jahre waren die große Zeit des Brutalismus in Deutschland, als die Architekten Baukunst mit skulpturalen Formen gleichsetzten und den Sichtbeton als Material der gestalterischen Freiheit feierten. Und es war der Bildhauer-Architekt Gottfried Böhm, der ihn nutzte, um mit Verve über den kargen Rationalismus der fünfziger Jahre hinauszuwachsen und den Expressionismus wieder aufleben zu lassen. Seine Wallfahrtskirche in Neviges, dieses eindrucksvolle Bergmassiv mit dem geheimnisvollen, spirituell aufgeladenen Inneren, gehört neben Scharouns Philharmonie und Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie zu den drei Inkunabeln der deutschen Baukunst der fünfziger Jahre. Expressiv wurde er nicht nur bei dafür prädestinierten Kirchenbauten, von denen er, durchaus in der Nachfolge seines Vaters, des Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm, Dutzende realisieren konnte. Mit rohem Beton und mittelalterlichem Mauerwerk schuf er auch Amalgame von alt und neu, indem er den Gemäuern der Godesburg bei Bonn, der Kauzenburg in Bad Kreuznach oder der Burgruine Bensberg neue Bauteile kongenial implantierte. Gerade das expressionistisch aufgetürmte Rathaus in Bensberg (1967) wurde im Denkmalschutzjahr 1975 als Paradebeispiel für das „Bauen in historischer Umgebung“ und als mustergültiger kreativer Umgang mit historischen Bauten vorgeführt.

Mariendom in Neviges, 1968 geweiht (Foto: Rabanus Flavus, Public domain, via Wikimedia Commons)
Rathaus Bensberg, fertiggestellt 1969 (Foto: Grkauls, Public domain, via Wikimedia Commons)

In den siebziger Jahren trat Böhm in eine neue Phase ein, entwickelte holländisch anmutende strukturalistische Tendenzen, etwa bei der Wallfahrtskirche Wigratzbad, die aus sechseckigen stählernen Raumkompartimenten zusammengesetzt ist. Skelette als Tragstrukturen traten auf den Plan, beim Rathaus in Bocholt, beim Stadthaus Rheinberg, beim großartigen Bürgerhaus Bergischer Löwe in Bergisch Gladbach (1974–80). Auch wenn er Konstruktions- und Raummodulstrukturen in Wirkung setzte, wurde nie Schematismus daraus, sondern skulptural wirkende Bauwerke, die sich trotz entschieden moderner Haltung auch in historischem Umfeld einfügten. Bei Böhms Gestaltungsfreude war es nicht verwunderlich, dass er in den achtziger Jahren in seine nächste, die postmoderne Phase eintrat. Die Universitätsbibliothek in Mannheim schaut aus Bullaugen in die Stadt und präsentiert in den Erdgeschossfeldern riesige, von Böhm selbst geschaffene Kugelskulpturen. Es war auch die Zeit der Passagen und gläsernen Hallen. Das Kölner Hotel Maritim hat eine solche Halle und reiht sich im Übrigen mit seinen burgenromantischen Bauformen und Details, Türmchen und Rotunden, in den historischen Kontext am Rheinufer ein.

Bürgerhaus Bergischer Löwe, Bergisch Gladbach, fertiggestellt 1980 (Foto: A.Savin (Wikimedia Commons · WikiPhotoSpace), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Züblin-Haus in Stuttgart-Möhringen, fertiggestellt 1984 (Foto: Karlo, Public domain, via Wikimedia Commons)

In Stuttgart gab ihm der Baukonzern Züblin die Gelegenheit, ein mächtiges Verwaltungsgebäude zu entwerfen: zwei Verwaltungstrakte, zwischen denen sich eine haushohe gläserne Halle aufspannt. Böhm färbte die Betonfertigteile rot wie schwäbischer Buntsandstein und setzte eine seiner erstaunlichen Treppenturm-Erfindungen samt Brückengespinnst inmitten der Halle. Beim Zeichnen solcher Brückentürme, skurriler Gerüstbauten und konstruktivistischer Bogenorgien hat er seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Hin und wieder bestritt er damit Wettbewerbe für Museen, den Reichstag in Berlin etc. aber ohne ernsthafte Realisierungschancen. Diese fantasievollen, poetischen Entwürfe gingen nahtlos über in seine künstlerische Arbeit, die immer nebenherlief, und die nicht nur auf Papier blieb, sondern als Wandmalereien, Glasfenster und Bauplastiken auch Eingang in sein gebautes Werk fanden.

In den neunziger Jahren tauchte in Böhms Entwürfen nochmals ein signifikantes Motiv auf, dynamistische Schalen als Großformen, so beim Entwurf für die Reichstagskuppel, beim Wettbewerbsbeitrag für die Philharmonie in Luxemburg, und schließlich beim Hans-Otto-Theater in Potsdam. Die „Orchidee am Tiefen See“, die mit ihren feuerroten, gestaffelten Schalen wie die Sydney Opera malerisch am Wasser liegt, ist der letzte große Entwurf, den er 1995–2008, zusammen mit Sohn Stefan Böhm, realisieren konnte. Bis zuletzt schaute er, wenn es die Gesundheit erlaubte, täglich in seinem Kölner Büro vorbei, griff zur Zeichenkohle und brachte in seiner unnachahmlichen Kunstfertigkeit Raumerfindungen zu Papier. Am 9. Juni ist Professor Gottfried Böhm, vielfach hoch geehrt, u.a. als einer der beiden deutschen Pritzker-Preisträger, im Alter von 101 Jahren in Köln gestorben.

Stadtbibliothek Ulm, 2004 eröffnet (Photo: timsdad/Wikimedia Commons)
Hans-Otto-Theater, 2006 eröffnet (Foto: Suse, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

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