Zwischennutzung als Chance

Klaus Overmeyer
27. März 2013
Links: Zwischennutzer in der Zeitlücke zwischen aufgegebener und neu geplanter Nutzung. rechts: Raumpioniere nutzen bestehende Ressourcen und agieren schnell mit einfachen Mitteln. 

Willkommen an Bord Nach etlichen Forschungsprojekten und Publikationen über Zwischennutzungen sind die temporären Stadtaktivisten in der aktuellen Praxis von Stadtentwicklung und Städtebau angekommen. Nicht nur in Gebieten, die von wirtschaftlichen Krisen oder Abwanderung betroffen sind, auch in Städten mit hohem Entwicklungsdruck können Zwischennutzungen mehr als schlechte Zeiten überbrücken: Sie sind treibende Kraft städtischer Transformation. Fast jede größere Stadt in Deutschland verfügt mittlerweile über privat betriebene oder öffentliche Zwischennutzungsagenturen. In städtebaulichen Wettbewerbsbeiträgen tauchen Zwischennutzer regelmäßig in Planlegenden auf, Geschäftsstraßen-Managements organisieren temporäre Nutzungen in leeren Ladenlokalen, und nicht wenige Ex-Raumpioniere sind heute Erbpächter oder gar Besitzer ihrer ursprünglich informell angeeigneten Räume.
Hat sich das Thema damit erledigt? Drohen die "einstigen Schmuddelkinder jetzt Opfer ihrer eigenen Erfolge zu werden", wie Wolfgang Kil wehmütig feststellt? Kil beklagt die Rückkehr zum Status Quo: Die einstigen Biotope für selbstbestimmte soziale und kulturelle Projekte – allesamt entstanden in Resträumen außerhalb immobilienwirtschaftlicher Verwertungsinteressen – gehen durch den anspringenden Immobilienmarkt unwiderruflich verloren. Womit er zunächst einmal nicht Unrecht hat. Gerade in den Innenstädten wird die Luft für Zwischennutzer durch die massive Kapitalflucht in Immobilien infolge der Finanzkrise dünner. Aber was ist genau die Alternative?
Ist es verwerflich, wenn erfolgreiche Zwischennutzer mit eigenem Kapital, einem geschickten Verhandlungsvermögen oder einem starken Partner durch Kauf oder Erbpacht dauerhaft über Raum verfügen? Wenn in Leipzig ehemalige Hauswächter in Eigenarbeit Häuser sanieren und sich dadurch längerfristig eine günstigere Miete sichern? Warum ist es kritisch, wenn zivilgesellschaftliche Projekte dazu beitragen, den Verfall von Stadtvierteln umzukehren? Sollen Grundstückseigentümer dazu verdonnert werden, ihre Liegenschaften auf unbestimmte Zeit "Improvisation und Experiment" zu überlassen?

Links: Werden Brachen für etablierte Nutzungen rentabel, geraten Zwischennutzungen unter Druck ...; rechts: .... und müssen mit Verdrängung rechnen. 

Evolution statt Revolution Zwischennutzer sind keine revolutionären Zellen, die für ein anderes System ohne Eigentum, Verwertungsdruck und Miete kämpfen. Sie wollen in erster Linie ihr Ding machen und sehen sich dabei in den wenigsten Fällen selbst als Zwischennutzer. So wie sich keine Stadt "einfrieren" lässt, unterliegen die Zwischennutzungen einer eigenen Dynamik. Von Zwischennutzungen zu reden und zu hoffen, dass sie für immer bleiben, ist ein Widerspruch in sich. Für die meisten ist in der Anfangsphase die befristete, unsichere Nutzungsdauer gegen geringes Nutzungsentgelt ein akzeptabler Deal. Diese Basis ermöglicht ihnen, mit wenig Finanzmitteln an den Start zu gehen, Ideen auszuprobieren und eigene Projekte zu festigen. Kritisch wird es, wenn sich die Nutzung konsolidiert, ihr aber der Boden unter den Füßen entzogen wird. Bleiben der Kampf um Raum, der Umzug auf eine alternative Fläche oder das Ende des Intermezzos. Soviel ist sicher: Die meisten Zwischennutzer arbeiten auf eine langfristige Perspektive hin und haben mit 35 keine Lust mehr, zum xten Mal als Pioniere von vorne zu beginnen. Insofern sind viele der von Wolfgang Kil genannten Projektbeispiele vor allem Resultat der persönlichen Biographie ihrer Akteure.

Links: Koproduktion von öffentlichen Räumen durch Nutzer, die im öffentlichen Interesse handeln. Rechts: Option mit langfristiger Perspektive: Zwischennutzer als DIY-Projektentwickler. 

Raumgebrauch als Startpunkt Als wir Anfang 2001 das EU-Forschungsprojekt "Urban Catalyst" starteten, war Berlin in einer historisch einmaligen Situation. Mit dem Fall der Mauer wurde die Stadt über Nacht zur europäischen Metropole der Nischen und offenen Räume. Über mehr als ein Jahrzehnt konnte sich an zentralen Orten und größtenteils frei von immobilienwirtschaftlichen Sachzwängen eine beispiellose Kultur des informellen Stadtgebrauchs entfalten, von der Berlin noch heute zehrt. So verlockend der Wunsch sein mag, diesen Zustand wieder einzufordern, ein Zurück wird es kaum geben.
Doch worum geht es uns? Um "sachliche Analyse und rationale Betrachtung einer endlichen Unternehmung" wie Wolfgang Kil behauptet? Weit mehr als die Befristung der Zwischennutzung interessieren uns deren langfristigen Endwicklungspfade und Auswirkungen auf die Praxis der Stadtentwicklung. Für uns verkörpern Zwischen- und Pioniernutzungen einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Planungskultur. Die Nutzer stehen nicht am Ende eines architektonischen Entwurfs- und Bauprozesses, sondern am Beginn, ob als temporäres oder langfristiges Projekt.
Durch die niederschwellige Raumaneignung mit wenig Kapital werden Zwischenräume zu experimentellen Orten grundlegender Fragestellungen, wie wir künftig in unseren Städten leben wollen. Wer ist an der aktiven Gestaltung von Stadt und ihren Wertschöpfungsprozessen beteiligt? Wie viel Freiheit und wie viel Festlegungen sind nötig? Wie kann die Schnittstelle zwischen selbstbestimmter Raumaneignung und formeller Planung verhandelt werden?
Die Chancen einer nutzergetragenen Stadtentwicklung sollten wir ergreifen, wo es nur geht. In jeder Situation Experimentierräume außerhalb von Bodenspekualtion und -verwertung einzufordern, ist jedoch illusorisch. Gefragt sind Realitätssinn und die Gabe, bestehende Verhältnisse und Kräfte für neue Spielräume zu nutzen. Je nach Eigentumsverhältnissen, Akteurskonstellationen, lokalen Bedarfen und stadtökonomischen Rahmenbedingungen sind die Optionen vakanter Räume für kurze oder dauerhafte Nutzungsinitiativen unterschiedlich.

Im Vergleich zur klassischen Projektentwicklung steht bei der nutzergetragenen Stadtentwicklung der Nutzer am Anfang des Prozesses. (Alle Zeichnungen: Klaus Overmeyer) 

Zwischen bleibt zwischen Zwischenräume wird es immer wieder geben. Was lange Zeit aufgelassene Fabrikareale, Bahnflächen oder Schlachthöfe waren, sind heute Einkaufszentren, Büros, Stadttheater und Kirchen. Nur ein Teil dieser Räume kommt für Zwischennutzungen wirklich in Frage, doch den sollten Kommunen und private Eigentümer viel stärker als bisher für eine Kultur des Temporären nutzen. Es ist weniger der Mangel an Räumen als vielmehr die fehlende Möglichkeit der Zugänge zu Leerständen, die Zwischennutzungen blockieren.
Nach Jahren der Deregulierung und Privatisierung wird vielerorts der Umgang mit öffentlichen Gütern neu verhandelt. Es geht um die Rolle des Gemeinschaftlichen in der Stadtgesellschaft, darum, wie gemeinsame Formen des Zusammenlebens und dessen Räume in Zukunft gestaltet werden. Die Devise ist eindeutig: Öffentliches Land muss wieder stärker in einem öffentlichen Interesse entwickelt werden. Raum aus öffentlicher Hand für Nutzungen, die eigene Projektideen umsetzen, gleichzeitig aber Angebote für das Gemeinwesen schaffen, ist ein vielversprechendes Modell, auch für Pioniernutzungen. Durch diese wird der öffentliche Raum quasi privatisiert, erst recht, wenn die Nutzung Eintrittsgeld kostet. Das muss nicht unbedingt negative Auswirkungen für den öffentlichen Raum haben, allerdings sind die öffentliche Hand und Raumnutzer gefordert, die Balance zwischen Einzel- und Gemeinwohlinteresse zu finden.

Zukunftsmusik? Zwischennutzer und Verwaltung diskutieren mögliche Organisationsmodelle für das Kreativquartier an der Dachauer Straße in München. (Bild: Rupert Schelle, Urban Catalyst studio) 

Zwischennutzer zu Raumentwicklern Verstetigung bedeutet für die meisten Zwischennutzungen grundlegende Veränderung: Formellere Organisationsformen, Professionalisierung der eigenen Arbeit, wirtschaftliches Handeln, mehr Verantwortung. Was Wolfgang Kil als Verlust experimenteller Freiheit beklagt, muss nicht zwangsläufig als Fiasko enden. Das Ex-Rotaprint in Berlin-Wedding oder der Postkult e.V. in Halle sind gute Beispiele dafür, dass eine langfristige Nutzungsperspektive neue Möglichkeiten schafft. Dazu zählen die Quersubventionierung von gemeinwohlorientierten durch kommerziellere Nutzungen oder auch produktive Mischungen von gewerblichen, sozialen und kulturellen Nutzungen, die nicht durch Marktanalysen sondern den Bedarfen aus dem Ort entstanden sind. In beiden Projekten sorgt die langfristige Verhinderung von Bodenspekulation durch Erbpachtmodelle oder Eigenerwerb dafür, dass sich auch in Zukunft die Projekte experimentell neu erfinden können.
Wir leben in Zeiten drastischer Umbrüche. Man kann in steigenden Mieten und der Verknappung von Räumen in den Städten das Ende der Zwischennutzungen kommen sehen. Der Blick über den Tellerrand offenbart auf der anderen Seite eine Vielzahl von kleinen, dezentralen und kollaborativen Keimzellen, die sich in praktischen Projekten mit den Themen der kommenden Stadt beschäftigen, sich professionalisieren und vernetzen und eines Tages die alten Regeln ablösen werden.

Verwandte Artikel

Vorgestelltes Projekt

Sieveke Weber Architekten BDA

Scheune für Lucia und Samuel

Andere Artikel in dieser Kategorie