Materialienschau

Katinka Corts
9. Dezember 2015
Trendcollage zu Grau- und Beigetönen verschiedener Materialien (Bilder: raumprobe)

Katinka Corts: Zehn Jahre ist es her, dass Sie die Ausstellung erstmals als solche benannt dem Fachpublikum zeigten. Wie hat sich der Fundus bis heute entwickelt?
Hannes Bäuerle: Die Menge der bei uns gelisteten Materialien ist seitdem kontinuierlich gewachsen. Wir haben damals mit 300 Werkstoffen begonnen. Inzwischen werden über 4000 Datenblätter in der Datenbank aktualisiert und gepflegt. Die jeweils zugehörigen Kollektionen und Varianten wiederum sind in der Materialausstellung hinterlegt. Da permanent weitere Neuheiten bei uns eintreffen, stehen die Kuratoren der Materialsammlung vor der schönen Herausforderung, regelmäßig darüber zu entscheiden was in das Archiv wandert, um den Überblick zu behalten. Die kürzer werdenden Entwicklungszyklen für Materialien erhöhen die Menge der jährlichen Neuerscheinungen. Um so wichtiger ist es, die besonders interessanten und damit auch relevanten Neuheiten zu identifizieren und entsprechend darzustellen.

Insgesamt können Besucher der Stuttgarter «materialAUSSTELLUNG» heute in einem Fundus von deutlich über 10'000 unterschiedlichen Mustern recherchieren. 
Das sind sicher mehr als genug, damit jeder seine passende Lösung findet und Neues entdeckt. In den letzten zehn Jahren sind auch einige interessante Entwicklungen wieder vom Markt genommen worden, da diese nicht häufig genug eingesetzt wurden. Andere haben die strengen Auflagen der (Bau-)Praxis nicht erfüllt. So erging es zum Beispiel den schönen Holzfliesen (zum Produkt), die aus Reststücken der Parkettproduktion gelasert wurden. Aufgrund zu hoher Skepsis im Bezug auf Haltbarkeit wurden die Fliesen trotz erfolgreich umgesetzter Referenzprojekte so gut wie nicht eingeplant. Jetzt wurde das Recyclingmaterial leider wieder vom Markt genommen.

Was machen Sie mit den entsprechenden Mustern – auch aufbewahren? 
Ja, wir behalten sie. Der Fundus an «ausgelaufenen» Materialien ist in den vergangenen Jahren zu einem interessanten Archiv angewachsen. Darin und auch in den aktuellen Neuentwicklungen sowie wiederentdeckten Klassikern schlummert noch jede Menge Potenzial für kreative Anwendungen.

Bei den einzelnen Exponaten sind jeweils die Kollektion und die Varianten hinterlegt

Neuartige Materialien im Bau zu etablieren ist aber sicherlich auch eine Kostenfrage.
Das ist so. Neue Materialien sind nicht günstig, und das umfangreiche Prozedere der Prüfverfahren ist für kleine Entwickler ohne entsprechendes konkretes Projekt nicht darstellbar. Es sind also Planer gefragt, die sich kreativ, mutig und zukunftsorientiert mit den Innovationen auseinandersetzten und diese auch einplanen. Ebenso benötigt es natürlich auch öffentliche und private Bauherrenschaften, die neuen Entwicklungen gegenüber positiv eingestellt sind und sich auch auf Experimente einlassen. Das damit verbundene Potenzial ist gewaltig, wie zahlreiche Beispiele belegen. Ein gutes Beispiel ist zur Zeit der moderne Holzbau: Das Unternehmen Cree hat zusammen mit dem Architekturbüro Hermann Kaufmann ein neues Holz-Beton-Verbundsystem entwickelt, dessen Stärken beim Bau der Illwerke Zentrum Montafon eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurden. Doch auch in Baden-Württemberg wurde diesen Sommer ein Leuchtturmprojekt realisiert. Das «KAMPA K8» ist zurzeit das höchste Holzgebäude Deutschlands. Der achtgeschossige Holzbau mit Plus-Energiekonzept schafft es sogar, den Brandschutz ganz ohne Betonkern zu erfüllen. Wir stellen in Umfragen auch fest, dass sich Holz zu den Favoritenplätzen bewegt hat und Beton überholt.

Im Jahr 1996 erschien in der Zeitschrift «Spektrum der Wissenschaft» der Artikel «Stärken und Schwächen der deutschen Materialforschung». Der Beitrag handelte generell von der gesamten Materialforschung, bezog sich aber auch auf den Forschungsauftrag von Hochschulen. Es hieß darin, Deutschland sei in den Materialwissenschaften zwar eines der führenden Länder, doch drohe es bei neueren Entwicklungen den Anschluss an die internationale Spitzengruppe zu verlieren. Diese Bewertung ist nun 20 Jahre her –  wie steht es heute um den Teilbereich der Deutschen Baumaterialforschung?
Es gibt nach wie vor viel Optimierungspotenzial. In den Forschungseinrichtungen liegt viel Know-How, das aber den Weg in die Anwendung (noch) nicht geschafft hat. Ob Dämmbeton, Carbon, «smart materials» oder Fertigungsverfahren wie 3D-Druck: Im Ausland wurden bislang viel mehr Projekte realisiert. So entstehen in Asien und Dubai bereits ganze Gebäude mit Spezialbeton, «gebaut» von großformatigen 3D-Druckern. Die bauaufsichtliche Zulassung von Dämmbeton ist in Österreich und der Schweiz schon viel weiter, wohingegen in Deutschland das Bauen mit diesem interessanten Werkstoff noch jeweils eine Zustimmung im Einzelfall bedarf.

Dämmbeton «kämpft» in Deutschland noch mit der Zulassung
«iD – Individual Digital Engineering» eröffnet kreative Möglichkeiten bei gedämmten Fassaden

Werden neue Materialien heute mehr unter dem Aspekt der Ästhetik der Technik oder der Nachhaltigkeit entwickelt?
Alle der angesprochenen Aspekte sind relevant, jeweils mit verschiedenen Schwerpunkten. Dass nachhaltige Materialien sinnvoll sind, steht außer Frage. Die generelle Abneigung gegenüber neuer Systeme – wie bei den Wärmedämmverbundsystemen geschehen – führt nicht zu einer Verbesserung oder Weiterentwicklung. Es schafft stattdessen ein weiteres «Kreativvakuum». Dass es auch anders geht, zeigen Büros wie Hild und K, die sich bewusst dieser «Giftschränke» annehmen und neue Ansätze entwickeln, die dann gemeinsam mit der Industrie vorangetrieben werden können. Im Bezug auf die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus ist hier aber noch Nachholbedarf. Meiner Meinung nach findet diesbezüglich kaum eine konstruktive Diskussion statt. Das zeigt unter anderem das häufig gewünschte Auswahlkriterium in unserem Materialfilter, mit dem dann alle Materialien im Bezug auf deren ökologischen Qualitäten gelistet werden sollen. Mit der komplexen Thematik sollte aber viel differenzierter umgegangen werden.

Aber fehlt dem Suchenden für dieses Bewusstsein nicht auch das Vokabular? Meist wird ja recht undifferenziert von «nachhaltig» und «ökologisch» gesprochen...
Als uns das Problem der Suche bewusst wurde, haben wir die Suchmaske von raumPROBE in Kriterien gegliedert: wir unterscheiden jetzt zwischen «sortenrein», «biologisch abbaubar», «nachwachsend», «Recyclinganteil» und «ökologische Zertifizierungen». So lassen sich aussagekräftige Vergleiche anstellen und schnell die entsprechenden Materialien finden.

Auszug aus der Suchanfragen-Historie von raumprobe: Grau 2012/2013, Dunkelgrau das Folgejahr und Braun 2014/2015

Welche neuesten Entwicklungen beobachten Sie auf dem Markt? Sehen Sie eine Tendenz zu einer bestimmten Art Materialien?
Im Bereich der Individualisierung unter ästhetischen Gesichtspunkten hat z.B. der Digitaldruck in den letzten Jahren kräftigen Zuwachs verzeichnet. Ob Glas, Bodenbelag, Textilien oder Plattenwerkstoffe – kollektionsübergreifende Designs lassen sich damit perfekt realisieren und selbst funktionale Werkstoffe wie Brandschutzplatten mit der gewünschten Optik versehen. Um bezüglich Tendenzen fundierte Antworten geben zu können, geben wir das Magazin «materialREPORT» heraus. Es zeigt, welche Neuheiten es gibt und welche Materialien, Farben, Strukturen und Oberflächen im Trend sind. Vorgängig werten wir dafür die Zugriffe auf unsere Datenbank aus und erstellen komplexe Trendscreenings. Wir sehen also heute schon, womit morgen gebaut wird. In der gerade aktuellen Auswertung zeigt sich im Bezug auf die Materialität, dass die Nachfrage nach Textil langsam wieder steigt. Gründe dafür sind die inzwischen vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von technischen Textilien, ob als Bewehrung im Beton, Lichtleiter oder Fassadenverkleidung sowie die gute akustische Wirksamkeit von Textil und die dementsprechende Optimierung von Teppichböden (Beispiele: silentTEX von Girloon und der Acrylglas-Verbundwerkstoff  lux Smart Panel von Ettlin).

Wie behauptet sich die analoge Version der Materialdatenbank heute? Gewinnt das «Selber anfassen» gegenüber der ständigen Erreichbarkeit einer digitalen Datenbank?
Die Auswertung von mehr als 1000 Fragebogen, die bei Fachseminaren von den Teilnehmern ausgefüllt wurden, zeigt einen klaren Trend auf: Gefragt, welche Faktoren bei der Auswahl von passenden Materialien eine große Rolle spielen, benennen die meisten die Haptik. Direkt gefolgt von den Kosten. Material muss nach wie vor «begriffen» werden. Gerade der Aspekt der Haptik ist ein Faktor, der die Branche allgemein von den rein virtuellen Angeboten unterscheidet und unbestreitbare Qualität bietet. Das Herz unseres Projekts bleibt daher auch die Materialausstellung. Und oft beobachten wir, wie Entscheidungen aufgrund der Haptik getroffen werden, die rein digital so nie erfolgt wären.

«smart materials» verschmelzen Material und Technik zu intelligenten Systemen

Ein Wunsch für die Zukunft?
Vor allem solch komplexe Materialsysteme wie die Gruppe der «smart materials» benötigt Moderatoren, die es verstehen die einzelnen Disziplinen zu verknüpfen um aus dem vorhandenen Wissen anwendbare Produkte oder Materialien marktreif zu machen. Aktuelle Entwicklungen wie die Thematik BIM zeigen, dass auch hier ein viel größeres Engagement der Architekten sinnvoll wäre. Ansonsten werden die Rahmenbedingungen von Politik, Industrie, Lobbyismus und den treibenden Softwarefirmen diktiert.

Architekt Joachim Stumpp und Innenarchitekt Hannes Bäuerle gründeten vor zehn Jahren in Stuttgart die Materialagentur raumprobe. Zunächst als analoge Materialausstellung konzipiert, entwickelte sich bald auch eine umfangreiche digitale Datenbank, die heute mehr als 12'000 Benutzer zählt. Stumpp und Bäuerle sind in der Lehre tätig, geben das Blatt materialREPORT heraus, veranstalten Themenanlässe und loben den materialPREIS aus. 

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