Leipzig reist - unterirdisch

Katinka Corts
8. Januar 2014
Leipziger Innenstadt von Süden (Bild: Henry Pfeifer / www.leipzig.de)

Großprojekte haben momentan einen schwierigen Stand in Deutschland – die Hamburger Elbphilharmonie, der Stuttgarter Durchgangsbahnhof S21 und der Großflughafen BER müssen in der Presse für allerlei Spott und Häme herhalten. Auch das Satiremagazin Postillon nahm die Bauwirren in einem Beitrag auf und stellte die Bauprojekte als Bausteinversion zum Garantiert-Nicht-Fertigbauen vor (zum Film).

Leipzig schafft sein Großprojekt
Neben all diesen Bauvorhaben ist nun im Dezember 2013 im Verhältnis eher unaufgeregt ein anderes großes Bauprojekt fertiggestellt worden – natürlich nicht ohne Wirren, Neuplanungen und Kostenüberschreitungen, jedoch schließlich zum 2010 neu veranschlagten Kostenrahmen und pünktlich zum damals festgelegten Termin: Seit dem 15. Dezember ist im sächsischen Leipzig der Citytunnel eröffnet.

Die knapp vier Kilometer lange Tunnelstrecke verbindet den klassischen Kopfbahnhof Leipziger Hauptbahnhof im Norden des Zentrums mit dem Sackbahnhof Bayerischer Bahnhof im Süden der Stadt. Planungen dafür gab es schon seit 1911, denn bereits vor der Fertigstellung des Hauptbahnhofs 1915 dachte man über eine unterirdische Verbindung der Bahnhöfe nach, die die lange Umfahrung der gesamten Stadt unnötig machen würde. Mit dem Ersten Weltkrieg stoppten die Bauarbeiten jedoch; der zweite Planungsanlauf scheiterte dann am Zweiten Weltkrieg. Auch zu Zeiten der DDR war die innerstädtische Verbindung ein Thema, konnte aber einerseits nicht finanziert werden und war andererseits auch aus politischer Sicht wenig attraktiv.

Erst 1991, als sich die Stadt Leipzig mit der Messegesellschaft, der Deutschen Bahn und dem Freistaat Sachsen zusammenschloss, sie die «S-Bahn-Tunnel Leipzig GmbH» gründeten und selbige mit der Realisierung beauftragen, begannen die Planungen zum schließlich 2013 fertiggestellten Projekt. Die Beauftragte plante zunächst mit einem Kostenrahmen von unter 600 Millionen Euro und einer Fertigstellung bis 2009 – beides war nicht zu halten, weil die Terminpläne zu wenig Zeitreserven vorsahen (zum Beispiel für das Durchbohren der zehn geologischen Schichten) und die Kosten des Projekts nicht bis zum Abschluss aller Arbeiten bedacht worden waren. 2010 prüfte die Deges (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH) das Gesamtvorhaben, die Planung wurde angepasst, verbessert und die Gesamtkosten wurden auf 960 Millionen Euro neu bestimmt.

Vier Handschriften
Drei Jahre später ist Leipzig nicht nur um eine unterirdische Verbindung für den Nahverkehr reicher, sondern auch um architektonische Highlights im Boden: Am Hauptbahnhof, am zentralen Markplatz beim Alten Rathaus, am stadtringnahen Wilhelm-Leuschner-Platz und am lange Zeit eher brach liegenden Bayerischen Bahnhof haben namhafte Architekturbüros in einer zeitgemäßen Sprache die neuen innerstädtischen Ankerpunkte definiert.

Eingang zur Station Hauptbahnhof (tief), Hentrich-Petschnigg & Partner (Bild: Punctum, Bertram Kober)

Den Übergang zwischen Fern- und Nahverkehr bildet die Station am Hauptbahnhof: Hier gelangen Reisende über Rolltreppen oder per Aufzug zum Tiefbahnhof. Die aus Düsseldorf stammenden Architekten Hentrich-Petschnigg & Partner, die auch eine Zweigstelle in Leipzig unterhalten, zeichnen für den Entwurf verantwortlich. Für die Einbindung des 215 Meter langen, unterirdischen Mittelbahnsteigs mussten drei Bahnsteiggleise zurückgebaut werden. Hier konnte in offener Bauweise gearbeitet werden. Die Unterquerung der Hauptbahnhofhallen war hingegen eine größere bautechnische Herausforderung, denn hier musste bergmännisch vorgegangen werden. Damit die Tunnelbohrmaschine mit Schildvortrieb hier eingesetzt werden konnte, mussten zunächst die Lasten des Bahnhofs entlang der Streckenführung über einen tragenden Frostkörper abgeleitet werden. Dieser entstand, indem beidseitig der geplanten Tunnelstrecke der grundwasserhaltige Boden auf 95 Metern Länge, 12 Metern Höhe und auf bis zu 9 Metern Breite mit Hilfe einer Kälteanlage gefroren wurde. Zwischen den Eiswänden konnte schließlich der Bahnhof unterfahren und der Tunnel gebaut werden. Der heutige Tiefbahnhof ist dabei nicht nur verkehrstechnisch geschickt in das Nah- und Fernverkehrssystem der Stadt eingebunden, er knüpft auch optisch Bande zum mächtigen Bahnhofsbauwerk: Die Lage an den ehemaligen Gleisen 3–5 integriert ihn unaufgeregt in die Langhalle und verändert das gewohnte Bild der Stahlbogenhalle wenig. Ein sandgrauer Altenbürger Kalkstein verkleidet die Wände der Abgänge, was mit dem in den Empfangshallen und im Querbahnsteig verwendeten Sandstein ein gelungenes Bild ergibt.

Station Markt, Kellner Schleich Wunderling Architekten und Stadtplaner ( Bild: Deutsche Bahn AG / Martin Jehnichen )

Eine Minute dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof zur nächsten Station. Die Haltestelle «Markt» liegt direkt dort unter dem Marktplatz am Alten Rathaus, wo sich seit 1925 das Untergrundmessehaus befand. Dieses wurde vollständig entfernt und die Station in offener Deckelbauweise errichtet. Die historische Treppenanlage ist wieder originalgetreu aufgebaut und dient heute als südlicher Zugang am Markt. Die Station selbst haben Kellner Schleich Wunderling Architekten und Stadtplaner entworfen. In der höher liegenden Verteilerebene blickt man aus dem Wartebereich auf die ein- und durchfahrenden Züge. Auf dem Bahnsteig in 23 Metern Tiefe ist der Raum ganz anders erlebbar: Die Architekten kleideten die knapp 5100 Quadratmeter großen Innenfassaden mit Terrakottaplatten aus und verorten ihr Gebäude damit in der Stadt der Passagen als neue Verkehrspassage.

Wilhelm-Leuschner-Platz, Max Dudler ( Bild: Deutsche Bahn AG / Martin Jehnichen )

Spiel der Kontraste
Lässt man das Braunorange hinter sich, folgt auf die nächste einminütige Dunkelheit ein strahlend heller Raum. In der Station Wilhelm-Leuschner-Platz ist die Handschrift des verantwortlichen Architekten unverkennbar: Im Raster, mit klarem rechten Winkel und sehr reduziert, schafft der Schweizer Max Dudler ein unterirdisches Lichtbauwerk. Die einzelnen Wandelemente bestehen aus betongefassten Glasbausteinen, die von hinten beleuchtet werden. Dudlers Referenz ist die 1914 eröffnete, viergeschossige Mädlerpassage in Leipzig, deren Decke aus einer Stahlbetonrippenkonstruktion mit quadratischen Glasbausteinen besteht.
Das Bauwerk wurde im November mit dem «Leipziger Architekturpreis 2013» ausgezeichnet. Während die 140 Meter lange und 20 Meter breite Halle Anklang findet, sind die beiden Ausgangsbauten in Richtung Zentrum und Platz umstritten: Ebenso gerastert und gläsern steht der eine sehr nah an den Gründerzeitbauten der Petersstraße, der andere dafür recht verloren auf dem gegenüberliegenden, kargen Baufeld, das künftig mal zum «Platz der Friedlichen Revolution» werden soll. Die Stadt hat zu dessen Neugestaltung 2011/2012 einen künstlerischen Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem der Vorschlag von M + M, München, und Annabau Architektur und Landschaft, Berlin, siegreich hervorging (Auszug Jurybericht).

Bunte Röhren und Lichtimpulse
Die vierte der unterirdischen Stationen befindet sich am Bayerischen Bahnhof und wurde vom Büro Peter Kulka Architekten entworfen. Gelangt man von außen zum Vorplatz des oberirdischen Bahnhofs, fallen unvermeidlich die mächtigen verschiedenfarbigen Stahlröhren auf, die mit den Außenwänden der Untergrundstation ein statisches System bilden. Im Inneren ist diese Haltestelle sehr zurückhaltend und überzeugt im Gegensatz zum farbenfrohen Auftakt im Eingangs- und Deckenraum schlicht mit der Ruhe, die sie ausstrahlt. Kommt jedoch ein Zug, verwandeln sich die einfarbigen Lichtbänder an den Seiten zu hell pulsierenden Vorboten der nahenden Bahn.

Station Bayerischer Bahnhof, Peter Kulka Architekten ( Bild: Deutsche Bahn AG / Martin Jehnichen )

Bemerkenswert an diesem Ort ist auch die Geschichte der Baustelle, die hier zumindest angerissen werden soll: Bis zu seiner Schließung im Jahr 2001 war der Bayerische Bahnhof der älteste in Betrieb befindliche Kopfbahnhof Deutschlands, sein Portikus ist heute denkmalgeschützt. Damit die Tunnelbaumaschine überhaupt an richtiger Stelle in den Boden abgesenkt werden konnte, musste zunächst der Portikus des 1844 fertiggestellten Bayerischen Bahnhofs mit Gleitlagern vom Baufeld geschoben werden. In einer knapp zehnstündigen Aktion wurde der 2800 Tonnen schwere Bau um circa 30 Meter seitwärts verlagert. Nach Abschluss der Bohrungsarbeiten gelangte der Portikus 2009 wieder an seine ursprüngliche Position. Ohne die durchführenden Gleise, die klingende Bahnhofsglocke und inmitten eines 40 Hektar großen Planungsperimeters wird es einige Jahre dauern, bis hier eine städtebauliche Selbstverständlichkeit entsteht.
Den aus diesem Problem resultierenden und 2011 entschiedenen Realisierungswettbewerb «Stadtraum Bayerischer Bahnhof» gewannen das Büro Jörg Wessendorf Architektur und Städtebau und das Atelier Loidl Landschaftsarchitekten. Das Team überzeugte die Jury mit der Grundidee, den Stadtraum in einzelne Grünbereiche zu gliedern und vergleichbar mit einer Perlenkette an der Bahnlinie aufzufädeln. Der besondere Gewinn dieser Flächen- und Baufeldsordnung bestehe darin, dass die Bahntrasse zu einem nahezu selbstverständlichen Abschluss der östlich gelegenen Bebauung und Freiflächen werde, hieß es damals im Jurybericht.

Visualisierung der Planungen im Stadtraum Bayerischer Bahnhof ( Bild: studio-wessendorf.de )

Euphorie und Alltag
Die ingenieurtechnischen Meisterleistungen – seien es die Vereisung unter dem Hauptbahnhof, das Tunnelbohren im Grundwasser unter der Leipziger Altstadt oder die Portikusverschiebung am Bayerischen Bahnhof – sind heute allesamt Erinnerungen. Erlebbar bleiben die Fahrt durch den Tunnel und die architektonischen Blüten, die die Stadt bereichern.
Für Ortsansässige wird die Untergrundbahn – abseits der ersten euphorischen Nacheröffnungstage – wohl keine große Rolle spielen: Die minutenkurzen Distanzen konnten auch bisher ohne größere Schwierigkeiten zu Fuß oder mit einer der bestehenden Straßenbahn- und Buslinien bewältigt werden.

Aber es geht hier eben auch nicht um die Leipziger, sondern um die Anbindung des Umlands und fernerer Städte. Aus jenen kann nun allerhand Volk direkt bis zum Marktplatz gerollt werden und hier unbefriedigten Konsumfreuden Raum geben. Und dafür muss nicht das eigene Auto in die Innenstadt bewegt werden – 40 Millionen Autokilometer bzw. 10’000 Tonnen CO2 sollen so pro Jahr eingespart werden. Schön und gut, wenn dies gelingt. Dafür müssten sich die bislang vom deutschen Bahnverkehr eher enervierten Reisenden jedoch auf das «Abenteuer Großstadtmetro» einlassen und ihr liebstes Kind, das Auto, im Dorf lassen. Katinka Corts

City-Tunnel, Leipzig, 2013

Die Streckenführung zwischen den Portalen am Leipziger Hauptbahnhof und dem Bayerischen Bahnhof (Grafik: Maximilian Dörrbecker)
Bauherrschaft
DEGES in Vertretung für Deutsche Bahn, Freistaat Sachsen, Bundesrepublik Deutschland und Stadt Leipzig

Architektur:
Station Hauptbahnhof (tief)
Hentrich-Petschnigg & Partner
Düsseldorf / Leipzig u.w.
 weitere Informationen zum Projekt

Station Markt
Kellner, Schleich, Wunderling Architekten
Hannover

Station Wilhelm-Leuschner-Platz
Max Dudler
Berlin / Zürich / Frankfurt
 weitere Informationen zum Projekt

Station Bayerischer Bahnhof
Peter Kulka Architektur
Köln / Dresden
weitere Informationen zum Projekt

Projektsteuerung 
Projektteil Sachsen: 
DEGES (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und bau GmbH)
Projektteil Bahn: DB Projektbau

Weitere Informationen
«Stadtraum Bayerischer Bahnhof in Leipzig»
Jörg Wessendorf und Atelier Loidl
 weitere Informationen zum Projekt

Der Leipziger Bauingenieur Frank Eritt hat sich über die gesamte Bauzeit mit dem Citytunnel befasst und ein sagenhaftes Daten-, Bild- und Planarchiv auf der Website www.citytunnelleipzig.infogeschaffen. Zunächst als privates Projekt wurde daraus bald ein offizieller Auftrag im Rahmen der verschiedenen Lose. Ein Besuch lohnt sich!
Hentrich-Petschnigg & Partner

Andere Artikel in dieser Kategorie