Elbphilharmonie eröffnet

Das Wunder von Hamburg

Carsten Sauerbrei
11. Januar 2017
Der gläserne, kristallartige Neubau auf dem trutzigen Backsteinquader des Kaispeichers prägt das äußere Erscheinungsbild der Hamburger Elbphilharmonie. (Bild: Iwan Baan)

«Wellen der Zuversicht», «Das Wunder am Fluss», «Kathedrale der Klänge», so lauten nur drei von unzähligen, schwärmerischen Überschriften von Medienberichten, die seit der Übergabe des von den Hamburgern liebevoll «Elphi» genannten Gebäudes am 30. November an die Stadt verfasst wurden. Ausnahmslos alle Architekturkritiker sind sich einig, dass hier ein Meisterwerk seiner nahezu perfekten Vollendung entgegengeht. Einige sprechen gar von einem Jahrhundertbauwerk. Doch wie erklärt sich die Faszination für das Gebäude der Basler Architekten von «Herzog & de Meuron», das lange als Bauskandal galt und in einem Atemzug mit anderen in Schieflage geratenen Projekten wie Stuttgart 21 oder dem Großflughafen BER genannt wurde?

Durch den gebogenen Rolltreppentunnel, die sogenannte «Tube» gelangen die Besucher auf das Dach des Kaispeichers. (Bild: Michael Zapf)

Kristall, Stadtkrone, Plaza

Den Beginn der «Elbphilharmonie» markierten ein paar wenige, schwarz-weiße Zeichnungen, die der «Vater» und Ideengeber des Projekts Alexander Gérard, selbst Architekt und Projektentwickler, im Dezember 2001 von seinem Besuch bei Jaques Herzog und Pierre de Meuron in Basel mitbrachte. Sie zeigen die einfachen und dennoch so faszinierenden Ideen der Architekten: Der trutzige, beinahe abweisende Backsteinquader des Kaispeichers A aus dem Jahre 1963 wird zur Basis für einen gläsernen Neubau, der gleichsam aus der ruhigen, plastisch einfachen Form des Speichers emporwächst und sich mit seinem Dach in weiten Schwüngen von der tiefer liegenden, östlichen Seite bis hinauf in 110 Meter Gesamthöhe an der Kaispitze aufschwingt. Ein Kristall, wie «Herzog & de Meuron» den Neubau nannten, der als hoch aufragender Abschluss der Hafencity zur kulturellen Stadtkrone wird. Genau das, «ein kulturelles und soziales Zeichen, um einen Stadtteil entweder zu entwickeln oder ihn an die Stadt heranzuführen», sei auch das Ziel gewesen, so die Kunsthistorikerin und neben Gérard Mitinitiatorin der Elbphilharmonie, Jana Marko im Interview mit dem Hamburger Abendblatt.

Die «Plaza» auf dem Dach des Kaispeichers ist Aussichtsterrasse und Verteilerebene zu Restaurants, Wohnungen, Hotel und den Konzertsälen. (Bild: Iwan Baan)

Jaques Herzog betont dagegen einen anderen Punkt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Er überlege sich bei Projekten vor allem, «wie man es schafft, dass der Raum angenommen und so zum Teil der Stadt und der Gesellschaft gemacht wird.» Diese Aufgabe haben er und die anderen Architekten von «Herzog & de Meuron» meisterhaft gelöst, wie der Besucheransturm seit der Eröffnung der Plaza, die als öffentliche Aussichtsterrasse und Verteilerebene zu Restaurants, Bars, Ticketoffice, Hotellobby und Foyers der neuen Philharmonie fungiert, am 4. November zeigt. Mit einer Folge von unterschiedlichen Raumqualitäten beginnend mit dem Haupteingang auf der Ostseite des Kaispeichers, dem ein 82 Meter langer, mit Glaspailletten bestückter Rolltreppentunnel, die sogenannte «Tube» folgt, bis hin zum weiten Hamburg- und Hafenpanorama auf der Plaza in 37 Metern Höhe schufen sie eine Vielfalt von attraktiven Raumeindrücken.

Im einstigen Kaispeicher entstand ein sechsgeschossiger Parkhaus-Neubau (Bild: Michael Zapf)

Parkhaus, Hotel, Wohngebäude

Spätestens auf der Plaza auf dem Dach des einstigen Kaispeichers wird deutlich, dass die Elbphilharmonie mehr ist, als nur ein Konzerthaus mit angeschlossenen Parkebenen. Nutzungsmischung, ein Konzept das in der Stadtplanung seit vielen Jahren favorisiert wird, garantiert, dass das Gebäude auch außerhalb des Konzertbetriebs belebt ist. Auf der Plaza entscheide sich, «ob die Elbphilharmonie auch als Teil der Stadt» funktioniere, so Jaques Herzog weiter im SZ-Interview. Daher seien auch «viele unserer großen Projekte (...) wie kleine Städte gedacht.» Im Einzelnen besteht der «Stadtteil» Elbphilharmonie aus einem sechsgeschossigen Parkhaus-Neubau für insgesamt 500 Fahrzeuge im entkernten Kaispeicher, aus mehreren Cafés und einem Restaurant auf dem Dach des Speichers, aus einem die gesamt Ostseite oberhalb der Plaza einnehmenden, 21-geschossigen Fünf-Sterne-Hotel mit 209 Zimmern und 35 Suiten, Kongressräumen, Lounge, Spa- und Wellnessbereich sowie aus einem auf der westlichen Gebäudeseite oberhalb der Plaza gelegenen, 16-geschossigen Wohnhaus mit 45 Eigentumswohnungen.

Auch ein 21-geschossiges Fünf-Sterne-Hotel ist Bestandteil der Elbphilharmonie. (Bild: The Westin Hamburg)

Jeder einzelne Gebäudeteil ist für sich perfekt auf die jeweilige Nutzung hin gestaltet. Das gilt insbesondere für die wichtigste Funktion, die eines Konzerthauses. Dieses besteht neben dem Großen Saal für 2100 Personen, dem Kleinen Saal für 550 Personen und dem dritten Saal, dem Kaistudio A für 150 Personen aus Flächen für Erschließung, Büros und Verwaltung sowie aus sechs weiteren, kleineren Sälen, im zweiten und dritten Obergeschoss des ehemaligen Kaispeichers, die der Musikvermittlung dienen sollen. Hier können gleich mehrere Schulklassen täglich oder auch Erwachsene klassische Musik am Ort der Aufführung kennenlernen. Als Einstimmung auf die Konzerterlebnisse oberhalb der Plaza haben dort die Sitzbänke in den Fluren und Sälen den gleichen Stoffbezug wie die Stühle im Großen Saal. Und auch die Kugellampen sowie die Leuchtstoffröhren ähneln den Modellen dort.

Das Kaistudio A, der dritte Konzertsaal der Elbphilharmonie, soll für die Aufführung experimenteller Musik genutzt werden. (Bild: Michael Zapf)

Schuhkarton, Weinberg, Stadion

Wenn die Plaza so etwas wie der Marktplatz des Städtchens Elbphilharmonie ist, so ist der Große Saal ihre Festhalle. Der Idee, solch einen Ort mit der Betonung von Gleichheit und Gemeinschaft zu demokratisieren, entsprang 1963 in der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun die weinbergartige Anordnung der Ränge um das Orchesterpodium herum. Diesem Urtyp folgten auch «Herzog & de Meuron». Wobei man im aktuellen Fall auch gut und gerne von einem Musikstadion sprechen könnte, denn die Hamburger Raumkonzeption orientiert sich nach Aussage der Architekten an jenem Typ «Fußballstadion, welchen wir in den letzten Jahren entwickelten und der eine beinahe interaktive Nähe von Besucher und Spieler zum Ziel hatte.» Gleich gute Bedingungen für alle Besucher, vor allem akustische, das war das Ziel. Um das zu erreichen ist der 18 Meter hohe Konzertsaal nicht nur sehr stark vertikal aufragend geformt, sondern er wurde auch nach dem Raum-im-Raum-Prinzip konzipiert und zusätzlich auf Federpaketen gelagert. So kann auch nicht das kleinste Umgebungsgeräusch den Hörgenuss stören.

Die stadionartige Anordnung der Ränge sorgt zusammen mit dem Klangreflektor über der Bühne und der individuell strukturierten Saaloberfläche für beste Sicht und Akustik. (Bild: Iwan Baan)

Außerdem überziehen etwa 10 000, jeweils individuell unterschiedlich mit Rillen, Löchern und Aussparungen bedeckte Gipsfaserplatten die gesamte Saaloberfläche mit Ausnahme des Fußbodens. Diese sogenannte «Weiße Haut» soll zusammen mit einem riesigen Klangreflektor über der Bühne für die perfekte Nachhallzeit von zwei Sekunden sorgen - und das an jeder Stelle des Raums. Konzipiert wurden sie nach den Vorgaben von einem der meistbeschäftigten Akustiker der Welt, dem Japaner Yasuhisa Toyota, der unter anderem auch für den von Frank O. Gehry entworfenen, neuen Berliner Pierre-Boulez-Saal oder den 2014 eröffneten Konzertsaal des polnischen Radiosinfonieorchester in Katowice von KONIOR STUDIO, Katowice verantwortlich zeichnete. Wobei letzterer mit seinem langgestreckten Grundriss schon fast dem Schuhkarton-Typus historischer Konzertsäle entspricht, bei dem Bühne und Publikum frontal gegenüber positioniert werden. Nach diesem, dem traditionellen Prinzip entwarfen «Herzog & de Meuron» in Hamburg den Kleinen Saal der Elbphilharmonie, bei dem die gewellte und geriffelte Oberfläche der Wandverkleidung aus Eichenholz ebenfalls für den perfekten Klang sorgen soll.

Im kleinen Saal soll die gewellte und geriffelte Eichenholzverkleidung den perfekten Klang garantieren. (Bild: Michael Zapf)

Es gäbe noch vieles zu schreiben über dieses Ausnahmegebäude, zum Beispiel über die komplexe Statik des Daches, über das überaus attraktive Material- und Lichtkonzept oder die individuell abgestimmte Möblierung der Räume. Dafür reicht der Platz an dieser Stelle bei weitem nicht aus. Um sich selbst von der Qualität der Philharmonie zu überzeugen, wird man sich leider auch noch länger gedulden müssen, sind doch die Eintrittskarten für die beiden Säle bis zum Ende der aktuellen Spielzeit im Sommer 2017 ausverkauft. Da dürfte es auch nur ein schwacher Trost sein, dass das Eröffnungskonzert für den Großen Saal am 11. Januar vom NDR live im Radio, Fernsehen und per Stream übertragen wird.

Carsten Sauerbrei hat Architektur und Architekturvermittlung in Potsdam und Cottbus studiert. Seit 2009 arbeitet er als freier Architekturjournalist und Stadtführer in Berlin und Potsdam. Er ist Inhaber von architekTour B, einer Agentur für Architekturführungen.

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