Zweifach gezeichnet
Entwürfe für das Planungskollektiv prägten den Alltag der DDR-Architekten. Weil ein großer Teil davon unrealisiert blieb, betrieben viele Planer eine Art Ausgleichssport: Reiseskizzen und freie künstlerische Arbeiten. Eine Berliner Ausstellung würdigt die große Bandbreite der Zeichnungen aus Architektenhand.
»Die Frage, ob in der DDR auf dem Feld der Architektur international richtungsweisende Leistungen vollbracht wurden, ist auch 35 Jahre nach dem politischen Ende jenes ostdeutschen Staates offen.« Der Einleitungssatz zur aktuellen Ausstellung in der Tchoban Foundation, dem Museum für Architekturzeichnung in Berlin, überrascht. Zum einen, weil er von Co-Kurator Wolfgang Kil verfasst wurde, einem der besten Kenner der DDR-Architektur. Zum anderen, weil in der DDR zweifelsohne herausragende Werke der Baukunst entstanden sind, was auch nicht in Ostdeutschland sozialisierte Experten anerkennen. Doch um so ikonische Einzelbauten wie den Dresdner Kulturpalast, das Leipziger Opernhaus oder das Schillermuseum in Weimar geht es in der materialreichen Ausstellung »Pläne und Träume. Gezeichnet in der DDR« nur am Rande. Denn sie ist von Wolfgang Kil und von Kai Drewes, dem Leiter der Wissenschaftlichen Sammlungen des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner bei Berlin, nicht als baukulturelle Leistungsschau angelegt worden, sondern huldigt dem außergewöhnlichen zeichnerischen Talent von – auch in Fachkreisen teils noch wenig bekannten – Architekten in der damaligen DDR.
Die Kuratoren konnten aus einem gewaltigen Reservoir an Skizzen, Wettbewerbs- und Präsentationszeichnungen sowie Kunstwerken in öffentlichen und privaten Sammlungen schöpfen. Im ersten Ausstellungssaal »Pläne« präsentieren sie Arbeiten, die im Kontext konkreter Projekte entstanden sind, im zweiten Raum »Träume« sind überwiegend freie Arbeiten zu sehen. Die Ausstellung beginnt mit Eberhard Werners – jeweils um 1949 entstandenen – abstrakten Freihandskizzen des Leipziger Messehauses am Markt und der Messehof-Passage, die im (ansonsten wie immer vorzüglichen) Katalog leider fehlen. Von Kunz Nierade werden gleich vier Bleistiftzeichnungen seines klassizistisch geprägten – nicht realisierten – Leipziger Opernhausentwurfs (mit Kurt Hemmerling, 1954/55) gezeigt, von denen die zusätzlich mit Buntstift bearbeitete Perspektive der Wandelhalle besonders stimmungsvoll ist. Herbert Schneider, der in den 1950er-Jahren »von allen am meisten im Barock schwelgte« (Wolfgang Hänsch), ist mit drei detailreichen Dresdner Stadtraumperspektiven vertreten – darunter eine vom Innenstadt-Wettbewerb 1952, in dem er für den Wiederaufbau des Altmarkts ein Turmhaus nach Moskauer Vorbild vorschlug. Der spätere Chefarchitekt des Dresdner Zentrumsbereichs läutete mit einem Entwurf einer eleganten Schrägseilbrücke über das breite Elbtal vor der minutiös dargestellten berühmten Stadtsilhouette 1960 gewissermaßen aber auch ein neues, moderneren Formen zugeneigtes Zeitalter ein. Im gleichen Jahr und ebenfalls in Dresden war Leopold Wiel (mit Klaus Wever) beim Wettbewerb für den Kulturpalast mit dem Entwurf eines lediglich von einer flachen Kuppel bekrönten strukturierten Flachbaus erfolgreich, wie eine von Angela Waltz angefertigte Grafik (Tusche und Deckweiß auf Farbkarton) belegt; gebaut wurde der Kulturpalast einige Jahre später jedoch ohne Kuppel und von einem Kollektiv um Wolfgang Hänsch.
Mit einer moderneren Architektursprache kamen in der DDR zunehmend auch alternative Darstellungsformen auf. Dieter Urbach fertigte Collagen aus Fotos und Zeichnungen für Projekte namhafter Kollegen an, etwa für die von markanten Solitären geprägte Jenaer Zentrumsplanung von Hermann Henselmann und Jörg Streitparth (um 1968). Doch meistens wählten Architekten nun Tusche auf Transparentpapier, um ihren oft expressiven Stadtraumideen Ausdruck zu verleihen. So etwa Günter Reiss beim Wettbewerbsbeitrag »Bayrischer Platz Leipzig« der Gruppe ZE4 (1968) und Dieter Bankert mit einem Wettbewerbsentwurf für Tanger, Marokko (1972), einer Vogelschau auf das Ost-Berliner Zentrum (1976) und einer Fischaugen-Entwurfsskizze des großen Saals im Friedrichstadtpalast ebendort (1984). Zum Spezialisten für das Bauen in Altstädten entwickelte sich Ulrich Hugk: 1973 fertigte er gemeinsam mit Wilfried Görtz Studien für Plattenbauten in sechs Greifswalder Altstadtquartieren an, ab Ende der 1970er-Jahre setzte er seine Untersuchungen gemeinsam mit Johanna Sellengk fort, was in zunehmend feinfühlig in den Bestand eingepassten Neubauprojekten etwa für Weimar (Schillermuseum, 1981) und Erfurt (Neue Brücke / Fischersand, 1984) gipfelte. Auch Peter und Ute Baumbach beschäftigten sich – im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Altstadtsanierung Greifswald – mit einer Adaption üblicher Plattenbauelemente für einen behutsamen Einsatz im Kontext historischer Bausubstanz, wie die detaillierte Isometrie eines Wohnungsbaus (1973) belegt.
Eine Ahnung von der Genese des späteren (inzwischen abgerissenen) Palasts der Republik in der Hauptstadt der DDR vermitteln die großformatigen Wachskreidezeichnungen von Werner Rösler. Vier seiner insgesamt 98 (!) atmosphärisch aufgeladenen Vorstudien sind derzeit am Pfefferberg zu sehen. Welche Richtung die Architektur womöglich noch eingeschlagen hätte, wäre es der Postmoderne auch in der DDR möglich gewesen, mehr Spuren zu hinterlassen, zeigen Projekte von Christian Enzmann und Bernd Ettel, unter anderem ein Wettbewerbsentwurf für den Friedrichstadtpalast in Ost-Berlin (1983) im isometrischen Zeichenstil von Oswald Mathias Ungers.
Im »Träume«-Raum (im zweiten Obergeschoss) sind die Zeichnungen – im Unterschied zum Saal »Pläne« – nicht chronologisch, aber ebenfalls teilweise in Petersburger Hängung angeordnet. Hier tauchen einige der Architekten, die bereits mit Arbeiten zu realen Projekten vertreten sind, ein zweites Mal auf, diesmal jedoch mit Reiseskizzen und Fantasieentwürfen, mit denen sie ihren oft frustrierenden Arbeitsalltag in den Planerkollektiven zu kompensieren versuchten. So etwa Michael Kny, der mit Studienzeichnungen aus Quedlinburg (1967) und Ahrenshoop (1973) vertreten ist – und mit vier unglaublich dichten »Babylonischen Türmen« (1974–1981) in unterschiedlichen Zeichentechniken. Alfred Pretzsch, der 20 Jahre lang Freihandzeichnen und Architekturperspektive an der HAB Weimar lehrte, entwickelte sich zum zeichnerischen Chronisten der Klassikerstadt. Als autonome Künstler – neben ihrem eigentlichen Beruf – traten etwa Ursula Strozynski, Peter Mayer und der Stadtplaner Michael Voll in Erscheinung. Gerd Wessel zeichnete Cartoons als sarkastische Kommentare, auch zur Baupolitik der DDR. Von Lutz Brand sind in Berlin – neben vier von über 300 detailreichen Grafiken der Serie »Wohnraumberatung«, die er 1974–1975 für die Neue Berliner Illustrierte anfertigte – vier »Balkonträumereien« (1983) inklusive satirischen Erläuterungen für Das Magazin zu sehen.
So etwas wie das tragische Finale dieser hochkarätigen Ausstellung bildet der Wettbewerbsbeitrag »Gedenkstätte Prinz-Albrecht-Gelände« (später »Topographie des Terrors«) für West-Berlin von Christian Enzmann und Bernd Ettel: ein Leporello aus 14 Tafeln und zwei Originalzeichnungen (1983). Deren ohne Genehmigung »über die Grenze gebrachter Entwurf beschrieb in spezifisch architektonischen Metaphern die Schritte von einer offenen Gesellschaft zu einer terroristischen Diktatur [– mit] kaum verhüllter Bezugnahme auf den repressiven Charakter ihrer DDR-Gegenwart« (Bildunterschrift im Katalog). Wegen ihrer zunehmend »dissidentischen« Entwurfsvisionen wurden sie 1985 verhaftet und wegen »öffentlicher Herabwürdigung der DDR« zu zwei beziehungsweise drei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Haftentlassung musste Christian Enzmann als nunmehr arbeitsloser Architekt noch über ein Jahr bis zu seiner Ausreise in den Westen warten. Er ging damit den letzten Schritt, den schon andere gegangen waren, deren Träume sich in der DDR eben nicht mehr mit konkreten Plänen für eine freie Gesellschaft vereinbaren ließen.
Die Ausstellung »Pläne und Träume. Gezeichnet in der DDR« ist bis zum 7. September in der Tchoban Foundation (Christinenstraße 18a, 10119 Berlin) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind wochentags von 14 bis 19 Uhr sowie samstags und sonntags von 13 bis 17 Uhr. Der Katalog (196 Seiten, deutsch/englisch, Hardcover) kostet 29 Euro zuzüglich Versand.