Welten bauen

Oliver G. Hamm | 10. Januar 2025
Blick in die Ausstellung »Welten bauen« (© Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Klemens Renner)

Mehr europäische Architektur-Avantgarde unter einem Dach ist eigentlich kaum vorstellbar. Seit Mai 2024 ist das sogenannte Blockhaus, das ab 1732 nach Plänen des französischen Architekten Zacharias Longuelune ursprünglich als Wach- und Zollgebäude der Residenzstadt Dresden am Neustädter Brückenkopf der Augustusbrücke errichtet worden war, nach tiefgreifenden Umbauarbeiten wieder zugänglich: als Sitz des Archivs der Avantgarden – Egidio Marzona, das auf eine Schenkung des italienischen Verlegers, Kunstsammlers und Mäzens von rund 1.7 Millionen Objekten zu den Vor- und Nachkriegsavantgarden des 20. Jahrhunderts an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zurückgeht. Die vom spanisch-deutschen Architekturbüro Nieto Sobejano Arquitectos hinter die vier bereits 1755 aufgestockten und nahezu identischen Außenwände des 1945 durch Kriegseinwirkung ausgebrannten und 1978–1982 wiedererrichteten Bestandsgebäudes eingefügte Haus-im-Haus-Konstruktion kann selbst getrost zur architektonischen Avantgarde gezählt werden: ein massiver Sichtbetonkubus – ein Hybrid aus Stahlbeton für das äußere und Stahlbau (Vierendeelträger) für das innere Tragwerk – scheint über dem weitgehend freien, für Wechselausstellungen genutzten Erdgeschoss zu schweben; tatsächlich hängt der Kubus an Konsolen und Verbundstützen in den Gebäudeecken, während die Lasten der Archiveinbauten von den Treppenhauskernen aufgenommen werden. Eine freitragende Wendeltreppe in Sichtbetonqualität erschließt eine Galerie mit umfangreicher Bibliothek und Studienräumen, die zur Forschung genutzt werden können.

Das Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona (© Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Klemens Renner)
Die Schau umfasst rund 200 Exponate aus der Sammlung des Archivs. (© Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Klemens Renner)

Dass – neben der künstlerischen – auch der architektonischen Avantgarde in diesem Archiv- und Ausstellungsgebäude ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, belegt die Tatsache, dass sich gleich die zweite Wechselausstellung der »Visionären Architektur im 20. Jahrhundert« widmet. Die von den Kuratoren Clemens Ottenhausen und Hubertus Adam konzipierte und in Zusammenarbeit mit der Stiftung Insel Hombroich entstandene Schau mit dem Titel »Welten bauen« spannt den Bogen vom Anfang des vorigen Centenniums bis in die 1980er Jahre. Rund 200 Exponate aus der eigenen Sammlung – Originalzeichnungen und Reprints, Modelle und Publikationen – rekapitulieren die Zukunftsvorstellungen von Architekten, die gerade heute, in Zeiten gesellschaftlich-politischen Stillstands oder gar Rückschritts, durchaus wieder zum Träumen anregen können. Den Auftakt der elf überwiegend einzelnen Architektinnen und Architekten, Kollektiven oder losen Gruppierungen gewidmeten Ausstellungsstationen machen Paul Scheerbarts intergalaktische Visionen: 21 reproduzierte Illustrationen aus seinen Bänden »Jenseits-Galerie« (1907) und »Lesabéndio. Ein Asteroiden-Roman« (1913). Von Bruno Taut, der ab 1914 in engem Kontakt mit Scheerbart stand, sind 36 Reproduktionen von farbgesättigten Bilderfolgen einer von Natur und Kosmos inspirierten Architektur zu sehen; bereits während des Ersten Weltkriegs entstanden, wurden sie 1919/1920 in mehreren Publikationen veröffentlicht (»Alpine Architektur«, »Die Stadtkrone«, »Die Auflösung der Städte«, »Der Weltbaumeister«). 

Bruno Taut, Alpine Architektur, Hagen: Folkwang Verlag, 1919 (© Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Universitätsbiblitohek Bauhaus-Universität Weimar)

Richard Buckminster Fuller arbeitete seit Ende der 1920er-Jahre an der Idee eines vorfabrizierten, transportablen und zudem energieautarken »Dymaxion«-Hauses und nach dem Zweiten Weltkrieg an geodätischen Kuppeln (Gitterschalen aus dreieckigen Kunststoffpaneelen) wie der »Biosphère« für die Expo Montréal 1967. In Dresden ist auch eine Reproduktion seiner berühmten Fotomontage »Big Geodesic Dome over Mid-Manhattan« von 1960 zu sehen; mit Entwürfen wie diesem, der eine im Durchmesser drei Kilometer messende Kuppel südlich des Central Park mit einem den Energiebedarf senkenden Mikroklima vorsah, wurde Fuller zu einem der frühen Vorreiter der Ökologiebewegung. Das italienische Superstudio um Adolfo Natalini entwickelte ab 1969 das Projekt »Monumento Continuo«, ein abstraktes Raster aus Rechtecken, das als infrastrukturelles Netzwerk ganze Städte, Landschaften und sogar Kontinente überspannen können sollte. Auch Leonardo Mosso und Laura Castagno-Mosso, die mit drei großformatigen Siebdrucken aus dem Mappenwerk »architettura programmata« (1969) und mit mehreren Modellen aus Holz und Leder oder Gummiband vertreten sind, beschäftigten sich mit modularen Raumtragwerken. Da sie früh mit Computern arbeiteten, gelten die Italiener heute als Pioniere des digitalen Entwerfens.

Buckminster Fuller beim Marine Corps Helikopterlift einer Geodätischen Kuppel, Orphan's Hill, North Carolina, USA, 1954 (© The Estate of R. Buckminster Fuller)
Superstudio, Das Fortwährende Monument, 1973 (© Superstudio, SKD, Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, Superstudio, Foto: Herbert Boswank)

Vergleichsweise düstere Stadtvisionen – darunter künstliche Mondsiedlungen – entwarf der gebürtige Österreicher Raimund Abraham, der seit 1964 in den USA lebte. Dagegen experimentierten seine Landsleute von Haus-Rucker-Co und Coop Himmelb(l)au betont spielerisch. Erstere schrieben 1969: »Zukunft ist für viele Leute furchterregend. Voll von grausamen Robotern, geheimnisvollen Strahlen, eisiger Kälte, künstliche Katastrophen und unbekannten Lebewesen. Zukunft wie wir sie sehen, ist hellgelb. Wie Vanille-Eiscrem. Erfrischend, gut riechend, appetitlich. VANILLE-Zukunft.« Ihre pneumatischen Wohnzellen – wie etwa bei der documenta 1972 in Kassel – dienten der Erkundung des Ichs. Auch Coop Himmelb(l)au arbeiteten lange mit flüchtigen, fragilen Installationen, ehe sie sich nach ihrem berühmten Manifest »Architektur muss brennen« (1980) zu avantgardistischen »echten« Architekten wandelten.

Archigram, Cheer up it’s Archigram, 1973 (© Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, London: Studio Vista / New York: Praeger)

Archigram, eine Gruppe von sechs Londoner Architekten, die sowohl vom japanischen Metabolismus als auch von der Popästhetik beeinflusst war, nutzte comicartige Illustrationen, um ihren Visionen von Wohnkapseln in sogenannten »Plug-In-Cities« und von einer »Walking City« – einem beweglichen, technisch geprägten Stadtorganismus – Ausdruck zu verleihen. Leider sind in der Dresdner Ausstellung nur zwei Arbeiten aus dem 1985 – neun Jahre nach der Auflösung der Gruppe – erschienenen Mappenwerk »21 Years – 21 Ideas« und drei Druckerzeugnisse zu sehen. In den beiden letzten Stationen »Vernetzungen« und »Alternative Architektur« präsentiert die Schau diverse Veröffentlichungen, die als Genealogie der fantastischen Architektur gelesen werden können (Ausgabe 102 der Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui, 1962, mit dem Titel »Fantastiques«), sich kritisch mit der damaligen Architektur auseinandersetzen (»Bauen als Umweltzerstörung«, Rolf Keller, 1973) oder anhand von Beispielen aus 60 Ländern auf eine alternative, kommunale »Architecture without architects« (Ausstellung im MoMA, 1964, und Buch von Bernard Rudofsky) verweist. Zwei zeitgenössische Kunstinstallationen und mehrere Veranstaltungen im »Diskursiven Raum« runden das breite Spektrum der sehr empfehlenswerten Ausstellung ab.

 

Die Ausstellung »Welten bauen. Visionäre Architektur im 20. Jahrhundert« ist bis zum 9. März im Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, Blockhaus (Große Meißner Straße 19, 01097 Dresden) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind dienstags bis freitags von 15 bis 21 Uhr sowie an Wochenenden von 11 bis 19 Uhr. 

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