Räume, entwickelt mit dem Zeichenstift

Oliver G. Hamm | 4. April 2025
Amerika-Gedenkbibliothek, Berlin, perspektivische Ansicht bei Nacht, 1988, Aquarell, Tusche und Graphit auf Papier, 22.86 × 30.48 Zentimeter (© Steven Holl)

Sein bauliches Œuvre ist relativ schmal und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf Museen, Konzertsäle, Bibliotheken, Universitäts- und Wohnbauten beschränkt. Dennoch gilt der 1947 in Bremerton, Washington, geborene Steven Holl, der seit 1977 ein Büro in New York City führt, als einer der einflussreichsten Architekten seiner Generation. Nahezu einzigartig dürfte sein grafisches Werk sein: Holl hat bereits mehr als 50'000 Skizzen, Zeichnungen und Aquarelle angefertigt, einen großen Teil davon in mittlerweile Hunderten von spiralgebundenen Skizzenbüchern im Format 5 × 7 Inches (entspricht ca. 12.5 × 18 Zentimeter). Die Tchoban Foundation, das vom ebenfalls begnadeten Meisterzeichner und Architekten Sergei Tchoban gegründete Museum für Architekturzeichnung in Berlin, zeigt nun eine kleine, in ihrer Vielfalt aber sehr beeindruckende Auswahl der von Steven Holl auf Papier gebannten Werke aus fünf Jahrzehnten.

Die von Kristin Feireiss, der Gründerin des nahegelegenen Architekturforums Aedes, kuratierte Ausstellung trägt den Titel »Drawing as Thought« und spielt damit auf die Arbeitsweise des (Raum)Künstlers an: Steven Holl entwirft räumlich, also nicht etwa auf Basis eines sich zunächst als Grundriss manifestierenden Raumprogramms, sondern mit Bildern von kompletten Räumen im Kopf, in denen Hell-Dunkel-Kontraste und damit die Licht- und Raumatmosphären von Anfang an mitbedacht sind. Auf diese Weise entstehen Blätter, die – selbst wenn es sich erkennbar noch um Skizzen oder erste Raumstudien handelt – gewissermaßen wie eine fertige Komposition wirken. Sie verkörpern die Essenz eines architektonischen Entwurfs, der in der weiteren Durcharbeitung (von Büromitarbeitern) natürlich noch weiter verfeinert werden muss. Zugleich wirken sie aber auch wie sehr weit durchdachte Vorstudien für autonome Kunstwerke, welche die Wände eines erlesenen Sammlers zieren könnten. 

Porta Vittoria, Mailand, Garten der Klänge, Perspektive und Plan, Entwurfsvariante von 1986, Tusche und Graphit auf Papier, 75.56 × 56.83 Zentimeter (© Steven Holl)
Palazzo del Cinema, Venedig, Perspektive, 1989, Graphit und Tusche auf Papier, 83.5 × 75.25 Zentimeter (© Steven Holl)

Begonnen hat die internationale Karriere von Steven Holl 1988, als er den Wettbewerb zur Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin gewann. Großformatige Zeichnungen seines Siegerentwurfs stehen im Mittelpunkt des ersten Ausstellungsgeschosses mit nahezu ausschließlich Schwarz-Weiß-Blättern. Innenraumstudien (Aquarell und Bleistift auf Papier) auf ausgerissenen Skizzenbuchblättern und großformatige perspektivische Ansichten bei Nacht, Axonometrien und ein Schnitt (jeweils Aquarell, Tusche und Graphit auf Papier) verdeutlichen, welch großartige Raumschöpfung Berlin nach der Wiedervereinigung entgangen ist.

Gewissermaßen als Prolog der Ausstellung dienen hochformatige Entwurfszeichnungen für den städtebaulichen Wettbewerb »Porta Vittoria« in Mailand (1986), bei dem es um die Neuordnung eines verlassenen Bahngeländes ging. Holl zeichnete mit Tusche und Graphit eine Reihe von sehr prägnanten Raumstudien, die ein wenig an die Pittura metafisica des Malers und Bildhauers Giorgio de Chirico erinnern, und ergänzte sie durch Grundrissskizzen, teils mit eingezeichneter Sichtlinie. Der restliche erste Ausstellungsraum ist einem weiteren nicht realisierten Wettbewerbsentwurf (Palazzo del Cinema, Venedig, 1990) mit drei großformatigen Blättern in gleicher Zeichentechnik sowie Holls erstem in Europa realisierten Bauwerk gewidmet: Das Kiasma Museum of Contemporary Art in Helsinki (1992–1998) mit seiner markanten gekrümmten Rückwand-Dach-Partie wird anhand von 16 abwechslungsreichen Innenansichten aus dem Skizzenbuch und von vier großformatigen perspektivischen Innenansichten vorgestellt. Von nun an zeichnete Steven Holl ausschließlich mit Aquarell und Bleistift (später auch mit Kohle) auf Papier. 

Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki, Innenansicht, 1993, Aquarell und Bleistift auf Papier, 17.78 × 12.7 Zentimeter (© Steven Holl)
Chapel of St. Ignatius der Seattle University, Perspektivische Ansicht 1, bei Nacht, 1995, Aquarell und Bleistift auf Papier, 45.4 × 35.24 (© Steven Holl)
Maggie’s Centre Barts, London, Notation des gregorianischen Chorals, verteilte Neumen, 2012, Aquarell und Kohle auf Papier, Skizzenbuch, 12.7 × 35.56 Zentimeter (© Steven Holl)

Im zweiten Ausstellungsgeschoss kommt (deutlich mehr) Farbe ins Spiel. Dort werden – nicht in chronologischer Ordnung – Blätter von Holls bekanntesten Gebäuden und auch von zwei aktuellen Projekten versammelt, beginnend mit seinem vorerst letzten vollendeten Bauwerk, dem Rubenstein Commons Institute for Advanced Studies in Princeton (2016–2022), und endend mit der Ostrava Concert Hall (seit 2019). Mit letzterer, die über ein bestehendes Kulturhaus ragt, greift er seine eigene Idee für die Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek wieder auf, die in Berlin anhand einiger Studienskizzen mit (für Holl eher ungewöhnlichen) ausführlichen Beschriftungen illustriert wird. 

Die beeindruckendsten Tableaus dieses Raumes sind zwei kleineren, aber sehr bedeutenden Werken von Steven Holl Architects gewidmet: der Universitätskapelle St. Ignatius in Seattle (1994–1997) mit gleich mehreren dezent farbigen perspektivischen Innenansichten, aber auch Detailstudien und einer besonders stimmungsvollen Außenansicht bei Nacht sowie dem Maggie’s Centre Barts (2012–2017), einem Zentrum für Krebspatienten des St. Bartholomew’s Hospital in London mit mehreren Fassaden- und Innenraumstudien inklusive farbigen Glasfragmenten, die an die Neumen-Notation eines gregorianischen Chorals erinnern. Einen besonderen Akzent – unter anderem mit zwei Vitrinen voller kompletter Skizzenbücher – setzt Steven Holls eigenes Refugium in Rhinebeck, New York, wo sich der Architekt auf einem 12 Hektar großen Waldgebiet, direkt am Rand eines kleinen Sees, neben vier weiteren Bauten für seine Familie, für sein Archiv mit Bibliothek, für ein Studio und für Gäste einen einfachen Arbeitsraum aus Holz geschaffen hat: Die Round Lake Hut (2009) ist gerade so groß, dass Holl (allein) darin in Ruhe skizzieren, zeichnen und aquarellieren kann, was er nach eigener Auskunft täglich macht. Sein Credo lautet: »Die kreative Arbeit beginnt in der Einsamkeit der Verbindung von Geist, Hand und Auge.« 

Rhinebeck Campus. Round Lake Hut, 2001, Aquarell und Kohle auf Papier, Skizzenbuch, 13.65 × 20.95 Zentimeter (© Steven Holl)
Ostrava Concert Hall, 2018, Aquarell und Bleistift auf Papier, 12.7 × 17.78 Zentimeter (© Steven Holl)

Die Ausstellung »Steven Holl – Drawing as Thought« ist bis zum 4. Mai in der Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung (Christinenstraße 18a, 10119 Berlin) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind montags bis freitags von 14 bis 19 Uhr sowie samstags und sonntags von 13 bis 17 Uhr. Der Katalog (207 Seiten, deutsch/englisch, Hardcover) kostet 29 Euro zuzüglich Versand. 

Weitere Informationen zu Ausstellung und Begleitprogramm

Vorgestelltes Projekt 

iam interior architects munich

Sonderausstellung »Sammeln. Glück & Wahn.«

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