Kunstpreis Berlin für Xu Tiantian
Eduard Kögel
15. März 2023
Die neue Tofu-Manufaktur im Dorf Caizhai gehört zu den drei Schlüsselprojekten, für die Xu Tiantian ausgezeichnet wird. (Foto: Wang Ziling)
Die chinesische Architektin Xu Tiantian erhält den diesjährigen Preis der Sektion Baukunst der Akademie der Künste in Berlin. Mit der Auszeichnung werden ihre partizipativen Projekte im ländlichen Raum der chinesischen Provinz Zhejiang gewürdigt.
Im ländlichen Raum der Provinz Zhejiang, ungefähr 460 Kilometer südwestlich von Shanghai, liegen drei der bekanntesten Projekte von Xu Tiantian: die Umnutzung der Shimen-Brücke über den Songyin-Fluss (2016–2017), die neue Tofu-Manufaktur im Dorf Caizhai (2017–2018), beide in der Region Songyang, sowie die Nachnutzung der nur wenige Kilometer entfernten Jinyun-Steinbrüche (2021–2022), die vergangenes Jahr in der Berliner Aedes-Galerie Thema einer Ausstellung waren. Seit 2014 entwarf die Architektin mehr als 30 Projekte, die in Anlehnung an lokale Traditionen und Materialien vor allem den Bewohner*innen dienen. Denn wie andere ländliche Räume Chinas ist auch diese Region von einer massiven Abwanderung geprägt. Dort hat sich die Investition in die zeitgenössische Architektur gelohnt, da viele – vor allem junge Bewohner*innen – in ihr ein Zeichen des Aufbruchs sehen. Sie kehrten aus den Städten zurück, um einen neuen ökonomischen Anfang zu wagen, dessen Grundlage die lokalen Ressourcen sind.
Aber wie konnte es funktionieren, dass vor allem die alten Bewohner*innen der Dörfer diesen neuartigen Bauprojekten zustimmten und sie sogar begeistert begrüßten? Das hat mit einer intensiven Betreuung und Kommunikation zu tun, da die Bewohnenden ihre Probleme gelöst sehen wollen und nicht in erster Linie nach Form oder Aussehen fragen. Fragt man sie aber, dann nennen sie als Referenz den lokalen Tempel oder die glitzernden Beispiele aus den Metropolen. Hier ist die Professionalität der Architektin gefragt, aus den Wünschen über partizipative Planungsprozesse neue, lokal verankerte Architektur zu destillieren, die nicht nur akzeptiert wird, sondern die auch die Kraft hat, eine zeitgenössische Identität zu definieren. Denn das ist einer der Wünsche vieler Dörfler: Endlich möchten sie mit einer eigenen Gestaltungsidee im Hier und Jetzt ankommen. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass ein erfolgreiches Projekt nur mit den Nutzenden zusammen und nie gegen sie realisiert werden kann.
„Ihre Projekte sind in die lokalen politischen Rahmenbedingungen eingebettet. Sie ermutigen Architekt*innen ebenso wie Nichtfachleute bei ihrem wichtigen Engagement für eine neue Balance zwischen Stadt und Land. Die kongeniale Verbindung von sozialem Engagement und gestalterischer Qualität stellt einen Prototyp für die Zukunft zeitgenössischer Architektur dar.“
Die Shimen-Brücke über den Songyin-Fluss gestaltete Xu Tiantian zu einem sozialen Raum um. Neu dient die Anlage beispielsweise als Marktplatz. (Foto: Wang Ziling)
Der Shimen-Brücke wurde eine Holzkonstruktion aufgesetzt, dank der jene an die traditionellen Wind- und Regenbrücken erinnert. Dies steigert die Akzeptanz bei der örtlichen Bevölkerung. (Foto: Wang Ziling)
Eine Brücke als Treffpunkt und MarktplatzDie aus den 1950er-Jahren stammende, gemauerte Shimen-Brücke verbindet die beiden Dörfer Shimen und Shimenyu über den Songyin-Fluss. Seit einiger Zeit war sie für den motorisierten Verkehr gesperrt. Xu Tiantian hat eine Holzkonstruktion aufgesetzt, dank der die Brücke an die traditionellen Wind- und Regenbrücken erinnert und somit leicht von der lokalen Bevölkerung akzeptiert wird. So konnte nicht nur die Verbindung zwischen den beiden Dorfteilen erhalten werden, sondern es entstand ein sozialer Ort über dem Fluss, an dem Märkte und Treffen stattfinden.
Die Holzarchitektur der Tofu-Manufaktur von Caizhai folgt der Topografie. Tourist*innen können sich vor Ort über die Tofu-Produktion informieren. (Foto: Wang Ziling)
Eine Manufaktur stärkt die GemeinschaftDie Tofu-Manufaktur im Dorf Caizhai liegt auf einem leicht abschüssigen Gelände und ist als Holzbau über Plateaus an die Topografie angepasst. Das Dorf ist schon seit Langem in der Region für seine exzellente Tofu-Produktion bekannt. Allerdings produzierten die Familien in der Vergangenheit in kleinen privaten Workshops, in denen die geltenden Hygienevorschriften nicht eingehalten werden konnten. Mit der neuen Anlage entstand ein Dorf-Joint-Venture, in dem jede Familie Mitglied werden und somit Produkte herstellen kann, die auch außerhalb des Dorfes über E-Commerce einen Markt finden. Gleichzeitig ist die Gebäudegruppe so angelegt, dass sie auch für Tourist*innen als Schauanlage dient, die bei einem Besuch verfolgen können, wie Tofu wirklich hergestellt wird.
Foto: Wang Ziling
Die Jinyun-Steinbrüche wurden zu einem Ort der Kultur umgenutzt. Durch Xu Tiantians Eingriffe bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit und den Raubbau an der Natur bewahrt. (Foto: Wang Ziling)
Vergangenheit und Zukunft zusammendenkenDas dritte Projekt ist die Transformation einiger offen gelassener Steinbrüche, die in den letzten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts mit einfachsten technischen Mitteln durch Familienbetriebe entstanden sind. Hier hat Xu Tiantian öffentliche Nutzungen in die Hinterlassenschaften der wilden Steinbruchlandschaft gebracht, die ganz neuartige Räume in der Natur entstehen ließen. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Architekturproduktion ging es nicht um die Konzeption eines Raumes, sondern um die „Zivilisierung“ der als Abfallprodukt zufällig entstandenen Höhlen und Kavernen. Die einstige Ausbeutung der Natur transformierte sich durch die Eingriffe von Xu Tiantian in eine Kulturlandschaft, die Erinnerung und Zukunft für die Bewohner*innen zusammendenkt. Dabei spielt auch die Frage der Wiedergutmachung der Narben und Wunden im landschaftlichen Gefüge eine wichtige Rolle.
Foto: Wang Ziling
Foto: Wang Ziling
Xu Tiantians Werk lebt nicht alleine von einem bestimmten architektonischen Vokabular, sondern von dessen gewinnbringendem Einsatz für die lokale Bevölkerung im ländlichen Raum. Lernen kann man von Xu Tiantian – und das gilt nicht nur in China –, dass die Partizipation durchaus überzeugende architektonische Lösungen befördern kann. Aber es bedarf dabei auch Architekt*innen, die sich mit ihrer ganzen Integrität professionell gegenüber überkommenen Vorstellungen durchsetzen können. Mit der Vergabe des Preises an Xu Tiantian wird unterstrichen, dass echte Beteiligung keinesfalls nur eine harmonische (oder lästige) Sache ist, sondern dass die fachliche Professionalität so weit gehen muss, Handwerker*innen, Verwaltungen, Nutzende, Bewohnende und Besucher*innen in einem kreativen Prozess aus der Vergangenheit in die Zukunft zu holen. Sie danken es später mit Stolz und begreifen die neuen Bauten mit Zuversicht als einen eigenen Beitrag zur Modernisierung des Hinterlandes.
Xu Tiantian (Foto: Xu Meng)
Das Buch „The Songyang Story“ stellt Xu Tiantians Projekte vor. Zur Besprechung