Architektur als Medizin
Ulf Meyer
27. März 2020
Die gemusterten Wandbespannungen wurden von Albin Müller entworfen. (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Therapien sollen Körper und Seele gleichermaßen behandeln. Beim Sanatorium Dr. Barner in Braunlage, das Chipperfield sensibel saniert hat, werden Architektur und Interieur zum Teil eines „ganzheitlichen“ Konzepts.
Kann Architektur „heilen“? Diese Frage wird in Fachkreisen ernsthaft diskutiert. Vermutlich lautet die Antwort „nein“. Aber die Heilung unterstützen, das können angenehme Räume durchaus, wenn sie das „physische und psychische Wohlbefinden von Personal, Patienten und Angehörigen“ befördern, so die offizielle Definition der „Healing Architecture“. Gesundheitsbauten können „unterstützender Faktor im Heilungsprozess“ sein, wenn Licht, Naturbezug, Akustik und die Luftqualität (Temperatur und Lüftung), aber auch die Wegführung Orientierung bieten und Stress mindern helfen. Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften und der Umweltpsychologie stützen diese These. Auch wenn der Begriff durchaus modisch ist, hat die Denkweise dahinter Tradition.
Ein interessantes Beispiel für heilungs-förderliche Baukunst ist das „Sanatorium Dr. Barner“ in Braunlage im Harz, das von David Chipperfield Architects aus Berlin instandgesetzt wurde. Das Sanatorium war vor gut hundert Jahren, im Jahr 1913 um genau zu sein, von dem Künstler-Architekten Albin Müller errichtet worden. Die damalige Reform-Architektur, die vom Deutschen Werkbund gefördert wurde, trat „für eine Gestaltung im Sinne des Menschen“ ein. Das klingt naheliegend. Allerdings steckten Psychosomatik und Psychotherapie als Disziplinen damals noch in den Kinderschuhen. Das von Chipperfield umgebaute Sanatorium war ursprünglich als „Klinik für Innere Medizin und Psychotherapie“ von Friedrich Barner gegründet worden, der zu den ersten Ärzten gehörte, die den Zusammenhang von Körper und Psyche auch architektonisch betrachteten. Prägend für den Bau war die Freundschaft zwischen Barner und seinem Architekten Müller, der ursprünglich selbst Patient in dem Sanatorium war. Für Barner und Müller waren medizinische und architektonische Praxis eng miteinander verbunden, ihnen galt „gute Architektur als Medizin“.
Das Haupthaus verbindet die beiden Villen miteinander. (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Die Marorhalle ist ein Schmuckkasten des Darmstädter Jugendstils. (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Barner hatte zwei Villen („Sonnenblick“ und „Villa am Walde“) erworben und sie umbauen sowie mit einem Mittelbau ergänzen lassen. Müller schuf mit dunklen Holzschalungen Bezüge zur vernakulären Architektur im Harz. Von den gemusterten Wandbespannungen über das Eichenparkett bis hin zu den Treppen und Möbeln, Lampen, Vertäfelungen und Türgriffen wurden alle Details von Müller entworfen. Die langjährige Arbeit des Architekten begann mit dem Entwurf der Eingangshalle mit Wartezimmer, es folgten die Einrichtung der Villa und der Bau einer Lufthütte und kulminierte in der Erweiterung des Mittelhauses. Das Sanatorium ist ein Gesamtkunstwerk und gilt als Höhepunkt des Darmstädter Jugendstils. Denn der Architekt Müller war in Nachfolge von Joseph Maria Olbrich Leiter der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt.
Vom „blauen Speisesaal“ blickt man in der Garten. (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Treppenhaus (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Das Gebäude dient heute einer „Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“. Um es funktionell auf dem neusten Stand zu halten, wurde im Jahr 2007 Chipperfield beauftragt, eine Restaurierungsstrategie zu entwickeln. Wie sein Vorgänger plante auch Chipperfield jährliche Bauabschnitte und setzte auf „behutsamen Bauerhalt“ des einzigartigen Baudenkmals. Die kleinen Schritte mussten in dem verwinkelten Gebäudekomplex für 70 Patienten bei laufendem Betrieb möglich sein: Nacheinander wurden Stiftungshaus, Vorderhaus, die Villa am Walde und das Mittelhaus dezent saniert. Nur in der Schwimmhalle, einem Anbau aus den 1970er-Jahren, trauten sich die Architekten neue Zutaten hinzufügen wie einen Gussasphaltboden.
Heute ist das Sanatorium in der vierten Generation in Familienhand und nach wie vor dem ganzheitlichen Konzept seines Gründers verpflichtet: Körper und Seele sollen gleichermaßen behandelt werden – liebevoll detaillierte Architektur- und Interieur-Details werden so zum Teil der Therapie.
Alte Bäume überragen das Haupthaus auf der Rückseite (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
Die Villa hat als Fassade teilweise eine dunkle Holzschalung. (Foto: Ute Zscharnt für David Chipperfield Architects)
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