Neue Dorfmitte statt Kirchenruine

Peter Zirkel
26. Oktober 2022
Die Wände des ehemaligen Altarbereiches wurden auf eine einheitliche Höhe abgetragen und die Öffnungen verschlossen. (Foto: Till Schuster)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Für diese Aufgabe organisierte die Kirchgemeinde 2018 ein Gutachterverfahren mit vier eingeladenen Architekturbüros. Neben der Nutzung durch die Kirchgemeinde für Gottesdienste und Andachten mit 60 Sitzplätzen sollte die Kirche auch für weltliche Trauerfeiern oder Zusammenkünfte ein Ort des Miteinanders sein. Des Weiteren sollte die Kirche in eine gemeinsame Konzeption als neue Ortsmitte mit dem zukünftigen benachbarten Dorfgemeinschaftshaus und dem bestehenden Sportplatz eingebunden werden.

Blick auf die Südfassade der Kirche. In die vorhandenen Öffnungen wurden neue Fenster eingesetzt, die Wänden einheitlich verputzt. (Foto: Till Schuster)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Durch die Teilung des ehemaligen Kirchenraumes in einen Freihof und in einen verkleinerten Sakralraum entstand die neue Lage der östlichen Giebelwand. Sie ermöglicht es, den Kirchenraum zum ehemaligen Altarraum hin in seiner ursprünglichen Dimension zu erleben. Mit vertikalen Lamellen im mittleren Bereich und zwei großen transparenten seitlichen Flächen wird eine intensive Verbindung von Innen- und Außenraum hergestellt. So wird der Außenraum zu einer Fortsetzung des inneren Kirchenraumes, es entstehen Ausblicke, aber auch ein gefasster, abgedunkelter Raum hinter dem mittig angeordneten Altar. Die senkrechten, verdrehten Holzprofile der Pfosten-Riegel-Konstruktion sorgen dort für Blend- und Sonnenschutz.

Der ehemalige Altarblock kann nun im Hof für Freitaufen genutzt werden (Foto: Till Schuster)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Nach 30 Jahren Leerstand und Verfall der Kirchenruine formiert sich im Jahr 2005 der Verein zur Förderung des Wiederaufbaus der Kirche. Die Akteure des Vereins sind sowohl Gemeindemitglieder, als auch konfessionslose Dorfbewohner, deren gemeinsames Ziel es ist, ihrem Dorf den verlorenen Dorfkern wiederzugeben – ein Zentrum, in dem man sich begegnen kann. In jahrelanger, ehrenamtlicher Arbeit wurde seitdem die Ruine beräumt und regelmäßig Veranstaltungen zu Spendenzwecken durchgeführt. Mit diesem Engagement konnte die evangelische Landeskirche Sachsen davon überzeugt werden, den Wiederaufbau zu unterstützen.

Dass die Baustelle für die Dorfbewohner etwas Besonderes ist, konnte man schon während der Realisierung der Baumaßnahme feststellen. Jeder Baufortschritt wurde von zahlreichen interessierten Besuchern begutachtet und fotografiert. Über das eigentliche Aufgabenfeld der Bauüberwachung hinaus stand bei den Ortsterminen auch immer ein spontaner Austausch mit den Nutzern und Anwohnern auf dem Programm. Schon vor der Eröffnungsfeier, die als großes Dorffest am 26. Juni 2022 stattfand, waren die Canitzer zufrieden: „Durch den Wiederaufbau sind wir im Dorf alle mehr zusammengewachsen.“

Im Kirchenraum schafft die neue Ostfassade intensive Verbindungen zwischen Innen- und Außenbereich (Foto: Till Schuster)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Die Idee, den Kirchenraum optisch zu dem entstehenden Freihof zu öffnen, entstand sehr früh. Die Ausgestaltung des hölzernen Blendschutzes erforderte allerdings sehr viele Studien im großmaßstäblichen Modell.

Die hölzernen Möbel, Fensterprofile und Einbauten wurden einheitlich weiß transparent lasiert (Foto: Till Schuster)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

Die Intervention in den vorgefundenen, gesicherten Rohbau ist im Wesentlichen durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Einerseits das behutsame Reparieren von Wänden und Böden mit ortstypischen Materialien, wie mehrlagigem Kalkputz und Sandsteinplatten unter Verwendung von vorgefundenem Material. Andererseits die Gestaltung der neuen Einbauten, wie die Orgelempore, die Möbel und insbesondere die Ostfassade mit dem Material Holz ohne einen starken Kontrast zum Bestand zu erzeugen. Bei der Baumaßnahme kamen bewusst wenige Materialien zum Einsatz.

Lageplan (Zeichnung: Peter Zirkel)
Grundriss Erdgeschoss (Zeichnung: Peter Zirkel)
Schnitte (Zeichnung: Peter Zirkel)
Kirche Canitz
2022
Schäfereistraße 2
01591 Riesa OT Canitz

Auftragsart
Auftrag nach Gutachterverfahren

Bauherrschaft
Ev.-Luth. Kirchgemeinde Oschatzer Land

Architektur
Peter Zirkel Gesellschaft von Architekten mbH, Dresden
Mitarbeit: Hans Böttcher, Philipp Leder, Conrad Lohmann (Projektleitung)
 
Fachplaner
Tragwerk: Engelbach+Partner Ingenieurgesellschaft mbH, Dresden
Elektro: ELIMO Elektro-Industriemontagen GmbH, Riesa
 
Ausführende Firmen
Rohbau und Putz: Pfennig Bau GmbH & Co.KG, Oschatz
Zimmerer: Baubetrieb Voigtländer GmbH, Oschatz
Pfosten-Riegel Fassade: Frauendorfer Tischler Werkstatt, Frauendorf
Holzfenster: Tischlerei Kitzing, Hof
Ausstattung: Tischlerei Holzwelten Frank Schöche, Oschatz

Hersteller
Pfosten-Riegel-Fassade:
Fassadensystem: Raico THERM+ H-I
Holzbeschichtung innen: Adler Aquawood (mehrteiliger Systemaufbau, Farbe: Natureffekt London)
Holz Beschichtung außen: Pullex Platin achatgrau
Türdrückergarnitur: FSB 1070 schwarz eloxiert matt
 
Tür/Fenster:
Fenstergriffe: FSB 1075 Steckgriff schwarz eloxiert matt
Türdrückergarnitur: FSB 1075 Rundrosette schwarz eloxiert matt
Holz Beschichtung innen: Adler Aquawood (mehrteiliger Systemaufbau, Farbe: Natureffekt London)
Holz Beschichtung außen: Adler Aquawood (mehrteiliger Systemaufbau, Farbe achatgrau)
 
Leuchten:
Firma Ligman
Pendelleuchten Innen: Brisbane 3, schwarz matt
Anbauleuchten außen: Marvik 4, graphitschwarz
Einbauleuchten innen: Brisbane 13 
Anbauleuchten/Spots innen: Tokyo 2, schwarz matt
 
Putz etc.:
Firma Tubag
Historischer Kalkputz mit NHL-P
Historischer Werksteinmörtel NHL-M
Trass-Vorspritzmörtel VSP
Natursteinschlämme NHL-NS
 
Bruttogeschossfläche
190 m²
 
Gebäudevolumen
1.140 m²
 
Gebäudekosten
380.000 €
 
Gesamtkosten
485.000 €
 
Auszeichnung
Sächsischer Staatspreis für Baukultur 2022: Anerkennung              

Fotos
Till Schuster, Dresden

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