Buch und Bühne

Bundschuh Architekten
2. September 2020
Der kräftige Sichtbetonpfeiler verankert das Verlagsgebäude fest im städtischen Raum und ist sichtbares Zeichen der „narrativen Treppe“ (Foto: Laurian Ghinitoiu)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Zum einen natürlich darin, dass das Projekt direkt gegenüber eines anderen fertiggestellten Gebäudes unseres Büros liegt und mit diesem eine Art Torsituation bildet. Es ist schon eine gewisse Herausforderung auf den selber vor wenigen Jahren geschaffenen Kontext zu reagieren.

Die Tatsache, dass der Hauptnutzer des Ensembles der Suhrkamp Verlag ist, ist sicher auch eine Besonderheit: Das Projekt ist zwar spannend und hat uns viel Spaß gemacht, aber letztlich ist es nicht von wirklich herausragender Größe oder Bedeutung allein auf der architektonischen Ebene. Ein wesentlicher Teil des Diskurses entsteht erst durch den Stellenwert des Nutzers in der deutschen Kulturlandschaft. Diese hohen Standards an ein Bürogebäude anzulegen, macht die Sache für den planenden Architekten nicht unbedingt einfacher.

Der neu geschaffene öffentliche Platz definiert den offenen Blockrand (Foto: Laurian Ghinitoiu)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Wir versuchen eigentlich Inspirationen, wenn ich dies im Sinne einer persönlichen Eingebung verstehen darf, eher zu meiden. Unsere Arbeit – so ist zumindest das Ziel – versteht sich als rationaler und deduktiver Prozess der sich auf konzeptionelle und kontextuelle Phänomene bezieht und diese referenziert und abstrahiert. Insofern sind Inspirationen tendenziell eher etwas das wir hinterfragen, als etwas das unser Denken leitet.

Die Wohnungen sind dreiseitig verglast und ermöglichen ein Wechselspiel von „Sehen“ und „Gesehen werden“, von Bühne und Zuschauer (Foto: Laurian Ghinitoiu)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Das Projekt ist, wie alle unsere Projekte es sind – manchmal mehr, manchmal weniger –, als Fortführung des städtebaulichen Maßstabs in der architektonischen Ebene gedacht. Für uns beinhaltet das immer nicht nur die unmittelbar physische Ebene, sondern natürlich auch immer den kulturellen und politischen Kontext. Gerade dieses Projekt befindet sich ja an einem sehr spannenden Ort: Das Scheunenviertel und der jetzige Rosa-Luxemburg-Platz waren seit ihrer Entstehung politisch aufgeladene Orte.

Zu Beginn des 20 Jahrhunderts wurden erhebliche Teile des Scheunenviertels zur Beseitigung der dort vermeintlich brütenden Kriminalität sowie wahrscheinlich einer nicht unbeträchtlichen Portion Antisemitismus zunächst einfach abgerissen. Mit dem darauf folgenden Wiederaufbau – und einem der ersten großen innerstädtischen Sanierungsprojekte überhaupt – wurde Hans Poelzig beauftragt. Mit der Volksbühne als Mittelpunkt entstand eine großartige städtische Anlage voller Dynamik und einem in Architektur übersetzen Glauben an die Moderne und den Fortschritt.

Dem Charakter des Platzes als politischer Brennpunkt tat dies übrigens keinen Abbruch: Die kommunistische Partei hatte hier seit 1926 ihren Hauptsitz (heute Die Linke), zwischenzeitlich wurde der Platz in Horst-Wessel-Platz umbenannt und war Schauplatz von SA-Aufmärschen. Immer, übrigens, natürlich mit der Volksbühne mittendrin, die über all die Jahre konstant als eine der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen galt und gilt.

Im Krieg wurden viele der Eckbauten Poelzigs zerstört, unsere Auftraggeber die IBAU AG (als übrigens die ursprüngliche Sanierungsträgerin und dadurch auch ehemalige Bauherrin Poelzigs…!) sanierte die Bestandsbauten in den Nachwendejahren und beauftragte uns – später gemeinsam mit dem Suhrkamp Verlag – mit der Planung des unbebauten Grundstücks.

Die behutsame Stadtreparatur, mit der wir hier nun konfrontiert waren, musste sich also notgedrungen auf diese bauliche, politische und kulturelle Historie beziehen. Das erfolgreiche Werben um den Suhrkamp Verlag, das wir gemeinsam mit der IBAU und der Stadt verfolgten, war schon vor dem Bau ein Teil dieser Strategie: Neben der Volksbühne ist durch den Zuzug des Verlages ein weiterer der wichtigsten Akteure deutscher Kultur an den Platz gezogen, er wird dadurch in seiner Funktion als Diskurs-Ort doch ganz erheblich geprägt.

Und genau diese Offenheit und der Fokus auf nicht nur das eigentliche Medium der Kritik – in diesem Fall das Buch – sondern auf die grundsätzliche Idee des aufbrechen tradierter gesellschaftlicher Strukturen prägt die städtebauliche und architektonische Umsetzung der Aufgabe. Damit sehen wir uns durchaus in der Tradition des Platzes.

Am deutlichsten ist dies sicher sichtbar in der städtebaulichen Figur: Statt des geschlossenen Blockrands mit einem engen Hinterhof, der nach wie vor die urbane Struktur dieser Stadt – auch bei Neubauten – prägt, haben wir den Block klar geöffnet. Es gibt keine hierarchische Stadtidee mehr, mit einer Schaufassade die dem öffentlichen Raum ein repräsentatives Gesicht zeigt, während im Hinterhof ein informeller Charakter von Privatheit herrscht. Wir ersetzen diese Struktur mit einer heterarchischen Idee, in der alle Fassaden gleichwertig sind und der öffentliche Raum ein freies ungehindertes Kontinuum bildet.

Diese Idee bezieht sich nicht nur auf die städtebauliche Figur - z.B. wird der benachbarte Innenhof in das städtische Gefüge des öffentlichen Raumes mit einbezogen – sondern zieht sich durch den gesamten Entwurf. Große Festverglasungen öffnen die Innenräume zu dem neu geschaffenen öffentlichen Platz, der an Stelle des alten Blockrandes entstanden ist. Der neue Platz ist der Öffentlichkeit gewidmet und ergänzt die Abfolge städtischer Freiräume. 

Dies gilt nicht nur für den Verlag, auch die Wohnungen öffnen sich mit einer größtmöglichen Radikalität zum öffentlichen Raum und bieten die Gelegenheit des Wohnens in einem neuen Typus von städtischem Ort, einem Raum in dem nicht nur der Wohnungsnutzer gleichzeitig Akteur und Zuschauer ist, sondern diese Rollenambivalenz sich auch auf den Nutzer des städtischen Raums erstreckt.

Aber besonders beim Verlag ist diese Rolle durch die räumliche Anordnung der Arbeitsbereiche und der darauf abgestimmten Fassadenkonzeption besonders deutlich: es wird mit den Büchern Öffentlichkeit erzeugt, sie sind ein jedem zugänglicher Teil unserer aller gemeinsamen kulturellen Wertschöpfung. Gleichzeitig aber ist die Produktion der Bücher ein zutiefst privater und zurückgezogener Prozess, die Beteiligten am Machen der Bücher, ob Autor oder Lektor, sind gleichzeitig Zuschauer und Akteure, Beobachter und Beobachtete.

Gerade die Offenheit mit der dieser Diskurs stattfindet ist eine sehr eng mit dem Platz, dem Theater und den seit nunmehr 100 Jahren sehr regelmäßig stattfindenden politischen Demonstrationen verbundene Idee. Diese umzusetzen war unser Ziel, inwiefern uns das gelungen ist wird sich natürlich erst viel später zeigen.

Der geschlossenen Fassade des Nachbarn wird die radikale Öffnung der Kulturwelt des Verlages gegenübergestellt (Foto: Laurian Ghinitoiu)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Schon in unseren ersten Entwürfen ging es immer um das Thema Buch, insofern hat der Nutzer das Gebäude sehr stark geprägt. Während die Grundidee des Ensembles aus der städtebaulichen Situation herausgewachsen ist, reifte gleichzeitig im Dialog mit dem Verlag die Idee auf der architektonischen Ebene. Ein spannendes Moment des Suhrkamp Verlages ist ja, dass diese zwar sehr stark in der Öffentlichkeit stehen und ihre Arbeit auch architektonisch mit dem Ort verbunden wissen wollten, und zwar durchaus auch im Sinne einer sehr öffentlichkeitszugewandten gestalterischen Sprache, gleichzeitig aber die Produktion von Büchern eine sehr ruhige, ja in Teilen fast kontemplative und entrückte Tätigkeit ist.

Daraus entwickelte sich dann die Gestalt und Architektur des Gebäudes: Zum Süden in den Großraumbereichen findet die kommunikativere Arbeit statt, durch die großen Verglasungen ist diese eng mit dem öffentlichen Raum verbunden. Von Anbeginn an war klar, dass die gesammelten Werke des Verlages – oder auf jeden Fall ein Großteil davon – auch im Stadtraum sichtbar sein sollten. Die Trennwände der einzelnen Kleinbüros wurden daher als Regalwände konzipiert und im Zusammenhang damit die große Festverglasung entwickelt.

Zum Norden hin sind die Einzelräume der Lektoren platziert, hier wechselt die Fassade zu einer stehenden und weit weniger transparenten Logik.

Als dann später Kinzo die Regale und Bürogeometrien weiter ergänzte entstanden auch die Beleuchtungen die der „friendly angular“ Logik folgen und die städtebauliche Präsenz der Bücher und des Verlages gerade in den täglichen Übergangszeiten noch einmal sehr eindrucksvoll verstärken.

Verbunden werden alle Geschosse durch die „Narrative Treppe“. Diese ist ein sehr zentrales Element des Entwurfs und verankert das Gebäude sowohl konzeptionell wie kontextuell. Die Treppe verbindet alle Abteilungen des Hauses, dem Besucher wird also beim Weg durch das Gebäude die „Geschichte“ des Herstellungsprozesses der Bücher vermittelt. Gleichzeitig ist diese Treppe in einem mächtigen Betonblock verortet, dieser verankert das Gebäude auf der Rosa-Luxemburg-Straße und entspricht in seinem Volumen der Gebäudefuge unseres Projektes L40 direkt gegenüber.

Die Logik der Nutzung aus den Gesprächen mit dem Verlag, die Kontextualisierung mit unserer eigenen Arbeit von vor ein paar Jahren und die architektonische Antwort auf die städtebauliche spannende Torsituation des Grundstücks haben also gemeinsam an diesem Punkt ganz wesentlich den Entwurf geprägt.

Rohe Betonflächen und Aluminiumfassaden erzeugen eine gestalterische Kontinuität der Innen- und Außenräume (Foto: Laurian Ghinitoiu)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

Ob das Gebäude ein Erfolg ist, oder wird, können natürlich nicht wir beurteilen, dazu sind wir sicher nicht objektiv genug. Aber wir sind sehr zufrieden mit der Qualität des Betons, vor allem auch im Innenraum. Es war ganz explizit keine Sichtbetonqualität gewünscht, gerade in den Treppenhäusern ist das z.T. ein seiner ganzen Produktionsästhetik auf eine sehr eigene Art sehr schön geworden.

Das gefällt – zumindest uns – sehr gut.

Axonometrie. Links das Gebäude L 40 (2010), im Vordergrund der öffentliche Platz, gerahmt von Verlagsgebäude und Wohngebäude (Zeichnung: Bundschuh Architekten)
Grundriss 4. Obergeschoss - Die Großräume öffnen sich nach Süden zum Platz (Zeichnung: Bundschuh Architekten)
Schnitt durch das Verlagsgebäude: Der leicht abfallende öffentliche Platz wird eingerahmt von Wohn- und Verlagsgebäude (Zeichnung: Bundschuh Architekten)
Suhrkamp Ensemble
2020
Linienstraße 34
10178 Berlin

Nutzung
Verlagsgebäude, Bürogebäude, Wohnen, Gastro, Einzelhandel, Galerie
 
Auftragsart
privat, direkt
 
Bauherrschaft
privat
 
Architektur
Bundschuh Architekten, Berlin (Planung LP 1 – 5)
Mitarbeiter: Giulia Albarello, Ignacio Bóscolo, Roger Bundschuh, James Crookston, Yannis Efstathiou, Emmanuel Hamelin, Wolfgang Mitterer, Philipp Ockert, Matthias Rothhaar, Eloïse Rudolph, Fabian Schwade, Florian Schwinger, Hannes Toepper, Thibault Trouvé, Harry Tweddell
DGI Bauwerk Gesellschaft von Architekten mbH, Berlin (Planung LP 6 -8)
 
Fachplaner
TGA: Protec Planungsgesellschaft mbH, Magdeburg
Tragwerksplanung: ifb frohloff staffa kühl ecker, Berlin

Ausführende Firmen
Rohbau und Betonfassade: KoHa Bauausführungen, Berlin
Metallfassade: MBM Metallbau Dresden GmbH, Dresden
Aufzüge: Schindler, Berlin; Osma, Berlin
Innenausbau: Lindner AG, Berlin
TGA/Kälte Lüftung: En. Plus GmbH , Berlin
TGA/Sanitär: Hauke Runge Klima-Bäder-Neue Energien GmbH , Berlin
Geländer, Schlosser: MFT Metall-Form-Technik GmbH, Kolkwitz
 
Hersteller
Aufzüge: Schindler
Fassade: Schueco
Schalter: Gira
Trockenbau, Türen: Lindner
Brandschutztüren: Hörmann
Parkett: Bembe
Sonnenschutz: Warema

Bruttogeschossfläche
6.851 m²
 
Gebäudevolumen
24.517 m³

Gesamtkosten
k.A.

Fotos
Laurian Ghinitoiu

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