Blätter in rotem Beton

Architektur 109
5. April 2023
Betonfertigteilfassade mit den Blätterreeliefs, Ausschnitt (Foto: Arne Fentzloff)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Eine sechsgruppige Kindertagesstätte ist zunächst eine häufig geplante und realisierte Aufgabenstellung. Spannend wird es mit den äußeren Bedingungen. Die wesentlichen Entwurfsparameter waren bei diesem Projekt eine Kaltluftschneise, die Stuttgart mit frischer Luft versorgt, ein Bahndamm, der mit hoher Lärmemission das Grundstück belastet, ein hochwertiger Baumbestand, der zu berücksichtigen ist und eine nach Westen ausgerichtete großzügige Freifläche.

Der kleine Vorplatz unter dem schattenspendenden Baum lädt zum Verweilen ein, bis die Kinder aus der Kita kommen. (Foto: Arne Fentzloff)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Wir suchten ein Thema in der Grundrisskonzeption: „Das Haus als Stadt“ – ein umlaufendes, frei geformtes Flursystem bildet das „Straßennetz“ mit differenzierten Aufenthaltsflächen, den „Plätzen“. 

Mit dem Kunstlicht unterstützten wir die Idee und unterscheiden zwischen Deckenleuchten entlang der polygonalen Erschließungsflächen vor den Gruppenräumen, der „Straßenbeleuchtung“ entlang der Personal- und andienenden Räume und der linearen Beleuchtung über den „Plätzen“. Die begrünten Lichthöfe stehen für den „Park“ und dienen der Orientierung und natürlichen Belichtung der Flure. 

Die vorgesetzten Türelemente markieren die Zugänge zu den „Zeilenbauten“ der Groß- und Kleinkindgruppen. Diese sind wiederum über Enfiladen untereinander verbunden. Durch das Erkunden des Hauses über differenzierte Wege, der Möglichkeit sich an den Plätzen zum Malen oder Essen zu treffen, nehmen die Kinder ihre Tagesstätte in Besitz. 

Entlang der lärmbelasteten Ostseite sind zwei Öffnungen eingearbeitet: der Zugang zur Küche und der Ausgang in den Garten vom Personalbereich. (Foto: Arne Fentzloff)
Die vorgehängte Betonfertigteilfassade mit den Reliefs der Blätter wirkt wie ein Buchrücken (Foto: Arne Fentzloff)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Über die poligonale Grundrissform fügt sich das Gebäude zwischen dem zu erhaltenden Baumbestand ein. An die östliche Baugrenze positioniert, richtet sich die Kindertagesstätte dreiseitig zur grünen Freifläche aus. In der Höhenentwicklung tiefer als der Bahndamm, lässt das Gebäude die frische Luft für Stuttgart über sich hinwegstreichen. 

Als „Buchumschlag“ fassen Betonsockel und –attika die eingespannte Holz-Glasfassade (Foto: Arne Fentzloff)
Blick vom baumbestandenen Freibereich auf die Westfassade (Foto: Arne Fentzloff)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Das Raumprogramm war durch die Vorgabe des Jugendamtes gesetzt. In der Vorplanungsphase wurden Varianten in der Geschossigkeit, der Lage innerhalb des Baugrundstücks und der Auswirkung zum Lärmschutz untersucht. Die Ergebnisse wurden gemeinsam besprochen und analysiert. Daraus entwickelte sich die umgesetzte Planung. Mit der Zusammenlegung von Schlaf- und Nebenräumen konnten wir einerseits den Personaleinsatz der Erzieher*innen optimieren und andererseits Raumprogrammfläche einsparen. Diese Flächenreserve führte zur möglichen Erweiterung der Verkehrsflächen und generierte hier Aufenthaltsbereiche.  

Der multifunktionale Zwischenraum, auch als Bobbycar-Rennbahn auf weicher Kunststoffbahn genutzt (Foto: Arne Fentzloff)
Die orthogonal organisierten Gruppenräume liegen zwischen der polygonalen Gebäudestruktur (Foto: Arne Fentzloff)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Zunächst entwickelt sich ein Projekt in kleinem Maßsstab und am Modell aus den vorgegebenen Planungsparameter und den äußeren Einflüssen. Eine Leitidee entsteht im Diskurs. Mit den Raumgrößen, der Funktion und inneren Ordnung bestimmt sich die Konstruktion.

In den weiteren Planungsschritten ändert sich der Maßstab und mit ihm die Sichtweise. Es geht weniger um Veränderung, mehr um die Tiefe im Detail und deren Weiterentwicklung. Materialität, Fügung, Oberfläche und Haptik, die Nachvollziehbarkeit der Bearbeitung: die OSB-Schalung des gegossenen Sichtbetons, die sägerauhe Brettschalung der Holzfassade oder der geschliffene Terrazzoboden, wie er das Innere der steinernen Zuschlagstoffe preisgibt. 

Der überdachte Vorbereich benötigt nur die halbe Höhe zur Beschattung und hält den Ausblick frei (Foto: Arne Fentzloff)
Die innere Straße mit den auskragenden Wandleuchten endet an der für das Malen vorgesehenen Raumaufweitung (Foto: Arne Fentzloff)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?

Als energetisches Ziel war die 30 %-ige Unterschreitung der zum Zeitpunkt der Genehmigung gültigen EnEV vorgegeben. Mit unserer Erfahrung im Holzbau kam die CO2-reduzierte Bauweise hinzu. Eine große Herausforderung stellte jedoch die enorme Lärmemission des Zugverkehrs auf dem Bahndamms dar. Eine reine Holzkonstruktion bildete keinen ausreichenden Schutz. Die Holz-Beton-Hybridbauweise, also Brettsperrholzwände mit aufgelagerten Ortbetondach und einer Betonfertigteil-Vorsatzschale an der Fassade zum Bahndamm, brachte den rechnerischen und letztlich den realisierten Erfolg.

Licht und Schatten begleiten die innere Erschließung (Foto: Arne Fentzloff)
In allen Bereichen ist der Bezug zum Licht und Freiraum gegeben und dient der Orientierung (Foto: Arne Fentzloff)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

Wir würden uns freuen, wenn die Kinder sich auch nach Jahren an ihre Kindertagesstätte erinnern und die prägenden Elemente des Gebäudes in ihren inneren Augen aufleben lassen: der innere Erschließungsbereich mit seinen Plätzen, die Geschichte „Die kleine Raupe Nimmersatt“ von Eric Carle entlang der Glasfassade, der freie Blick ins Grüne unterhalb des vorgelagerten Sonnenschutz. Natürlich der weitgehend belassene Freibereich unter großen Bäumen und das Bild der gegossenen Blätter auf rotem Beton. Da wäre ein schöner Erfolg.  

Lageplan (Zeichnung: Architektur 109)
Grundriss (Zeichnung: Architektur 109)
Schnitt (Zeichnung: Architektur 109)
Kindertagesstätte Dilleniusstraße
2022
Dilleniusstraße 29
70374 Stuttgart – Bad Cannstatt
 
Auftragsart
VOF Auswahlverfahren 2013
 
Bauherrschaft
Landeshauptstadt Stuttgart 
Hochbauamt 
Abteilung Kultur-, Bäder-, und Jugendbauten 
 
Architektur
Architektur 109
Arnold | Fentzloff | Otterbach  
PartGmbB | Freie Architekten BDA, Stuttgart
Assoziierte Mitarbeiterin Danny Tietze
Projektleitung: Danny Tietze 
 
Fachplaner
Landschaftsarchitekt: Koeber Landschaftsarchitektur, Stuttgart
Tragwerkplanung: Weischede, Herrmann + Partner, Stuttgart
Bauphysik: Krämer-Evers Bauphysik GmbH, Stuttgart
Geologie: Henke und Partner, Stuttgart
Elektro: Ingenieurbüro G. Volz GmbH & Co. KG, Ehningen
Heizung | Lüftung | Sanitär: Ratioplan GmbH, Weissach im Tal
 
Bauleitung
Marc Holtschmidt
Birk Heilmeyer und Frenzel, Stuttgart
 
Ausführende Firmen
Rohbau: Bauunternehmung Karl-Heinz Rahm GmbH, Stuttgart
Betonfertigteile: Zuber Betonwerk GmbH, Crailsheim
Holzbau: Holzbau Schaible GmbH, Wildberg
Dachabdichtung: Holz & Dach Fehse, Gersdorf
Holz-Glaselemente: VHB Vereinigte Holzbaubetriebe GmbH, Memmingen
Sonnenschutz: Paul GmbH, Filderstadt
Heizung und Sanitär: FM-Tech GmbH, Remshalden
Lüftung: LK Lorcher Klimatechnik GmbH & Co. KG, Lorch
Elektro: Elektro Sauer GmbH, Göppingen
Putz- und Stuck: Kopp Tilo Stuckateur- und Malerbetrieb, Stuttgart
Rohrrahmentüren T30: Eckert Glas- und Metallbau GmbH, Eschelbronn
Trockenbau: WIBAU Jörg Winkelbauer, Gerlingen
Maler: Schweizer Malerbetrieb, Filderstadt
Estrich: Okatar Estrichbau GmbH, Dillingen/Saar
Terrazzo: Bayer Betonwerkstein GmbH, Blaubeuren
Fliesen: Von Au – Gehrung Fliesen GmbH, Nürtingen
Granulatboden: Polytan GmbH, Burgheim
Schlosser: Schmid + Drüppel Metallbau GmbH, Böblingen
Holzakustikdecken + Einbaumöbel: Gebr. Link, Stockheim
Innentüren: Thomas Hasselwander GmbH, Stuttgart
Küchen: Küche & Design GmbH, Backnang
Schließanlage: TIMA Sicherheitstechnik GmbH, Dortmund
Sicherheitsmarkierung + Gedichttext: Menrad Concept, Freiberg am Neckar
Baureinigung: Raptis Unternehmensgruppe Ltd. & Co. KG, Stuttgart
 
Hersteller
Betonfertigteile: Zuber Beton, Crailsheim
Brettsperrholzwände: Züblin Timber, Stuttgart
Flachdach: System Bauder, Stuttgart
Fensterelemente: VHB Vereinigte Holzbaubetriebe, Memmingen
Terrazzo: Bayer  Betonsteinwerk, Blaubeuren
Linoleumbelag: DLW 
Farbe: Keim 
Beschläge: FSB
Beleuchtung: XAL
Schalterprogramm LS 990 WW: Jung
 
Energiestandard 
30 % Unterschreitung der zum Zeitpunkt der Genehmigung 2017 gültigen EnEV
 
Bruttogeschossfläche
1.347 m²
 
Gebäudevolumen
5.650 m³
 
Kubikmeterpreis der Gebäudekosten
533 €/m³ Gebäudekosten
699 €/m³  Gesamtkosten
 
Gebäudekosten
3.010.000 €
 
Gesamtkosten
3.950.000 €
 
Fotos
Arne Fentzloff | Architektur 109

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