Beteiligung schafft soziale Nachhaltigkeit
Prinzmetal
18. September 2024
Der neu gestaltete Kirchenraum vom Altarbereich aus gesehen (Foto: Brigida González)
Die Martinskirche im Stuttgarter Norden wurde nach Plänen des Architekturbüros Prinzmetal umgebaut. Aaron Werbick und Gerald Klahr schildern den langen partizipativen Prozess, der dem eigentlichen Entwurf vorausging.
Herr Werbick, Herr Klahr, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?
Aaron Werbick: Die zur Disposition stehende Kirche aus den 1930er-Jahren wurde in einem zehnjährigen Beteiligungsprozess in ihrer Typologie hinterfragt und programmatisch neugestaltet. Für uns war das Erproben, Nutzen und Interpretieren des Raums vor der klassischen Planung die Grundlage für einen nachhaltigen Umbau. Dieser ist nun abgeschlossen und ermöglicht eine funktionale Unbestimmtheit und Aneignungsoffenheit. Die Kirche gilt durch ihre Transformation als Leuchtturmprojekt der Evangelischen Landeskirche Württemberg.
Blick vom Altarraum zum Treppenhaus (Foto: Brigida González)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?
Gerald Klahr: Die Kirche liegt im heute multikulturell geprägten Nordbahnhofviertel der Stadt Stuttgart. Die angrenzenden Konversionsflächen der Bahn bilden dort seit Jahrzehnten ein einzigartiges Kleinod für Künstler und Kreative. Diese Qualitäten sollen zukünftig in einem Kreativquartier im neuen Rosensteinviertel verstetigt werden. Neben sozialen und gemeinschaftlichen Einrichtungen wie einer Kindertagesstätte, Kleingewerbe und Co-Working-Spaces sollen hier auch neue Formen des gemeinschaftlichen Wohnens angesiedelt werden. Die Martinskirche wird ein wesentlicher sozialer und kultureller Baustein dieses neuen Stadtteils sein.
Übergang vom Altarraum zum Treppenhaus (Foto: Brigida González)
Haben Sie den Auftrag über einen Wettbewerbsbeitrag oder direkt erteilt bekommen?
Aaron Werbick: Ab 2006 haben wir den Beteiligungsprozess zur temporären Nutzung der Kirche betreut. In dessen Verlauf wurden die Potenziale der Kirche und des Ortes neu entdeckt, und in der Folge lobte man einen Wettbewerb aus. Obwohl uns ein Projekt in dieser Größenordnung zunächst nicht zugetraut wurde, da wir bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend an temporären Bauten und Readymades gearbeitet hatten, haben wir diesen nicht offenen Realisierungswettbewerb mit Ideenteil gewonnen.
Im einstigen Bunker unter der Kirche ist neu ein Bistro eingerichtet. (Foto: Brigida González)
Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt? Wie haben Sie diesen im Projekt Rechnung getragen?
Gerald Klahr: Das Umbaukonzept überträgt wesentliche Merkmale des temporären Experiments in bauliche Strukturen. Die Kirche wurde in drei Hauptbereiche gegliedert: adaptive Gemeinderäume im Seitenflügel, ein nutzungsoffener Kirchenraum im Hauptschiff, Bistro und Ausstellungsflächen im Bunker.
Die für die Nutzungsvielfalt notwendige Wandelbarkeit des Raums wurde durch punktuelle Einbauten gewährleistet. Dazu gehören im Bereich des Hauptschiffs eine neu gestaltete Empore mit zwei Kapellen und eine Erweiterung des Altarbereichs, die je nach Nutzung adaptiv in Gebrauch genommen werden können.
Der Gruppenraum im Seitenflügel ist ein Ort für verschiedene Aktivitäten, unter anderem für Workshops, Vorträge, Yoga-Übungen und zum Basteln. Er ist durch ein großes Einbaumöbel, das über ein Mezzanine verfügt und mit klappbaren Tischen und Bänken sowie mobilen Pinnwänden mit integrierten Sitzmöglichkeiten ausgestattet ist, frei gestaltbar.
Der erhaltene Luftschutzbunker im Untergeschoss wurde im Sinne des Denkmalschutzes aufbereitet und zu einem neuen Ort der Begegnung umgebaut. Er öffnet sich über einen Platz zum Quartier und macht den Raum als Zeitzeugnis der Öffentlichkeit zugänglich.
Im neuen Gemeindebüro (Foto: Brigida González)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzenden den Entwurf beeinflusst?
Aaron Werbick: Von 2006 bis 2015 wurde unter dem Motto »Nimm 3000 Euro und verändere die Welt« mit einfachen Materialien wie 350 Europaletten und 500 Gerüstbohlen ein partizipativer Bauprozess initiiert. Gemeinsam mit lokalen Akteuren – Jugendlichen, Künstlern und Anwohnern, Rentnern, Musikern, Alteingesessenen und Zugezogenen – wurde der Raum in seiner Bedeutung, seinem Erscheinungsbild und seiner räumlichen Konfigurationen erprobt, wurden seine Grenzen und Möglichkeiten experimentell ausgehandelt und weiterentwickelt.
Der partizipative Bauprozess schuf ein uneindeutiges Raumangebot, forderte die Akteure auf, sich mit dem Raum auseinanderzusetzen und ihn selbstwirksam zu gestalten. So entstand eine wachsende Identifikation mit dem Ort und gleichzeitig eine Verantwortung für den Raum. Die gemeinsam entwickelte Idee zum Umbau der Martinskirche war, dieses uneindeutige Raumangebot zu erhalten, um einen Ort zu bewahren, der Handlungsspielräume eröffnet und gemeinsam gestaltet werden kann.
Vor der Martinskirche ist eine Außenterrasse entstanden. (Foto: Brigida González)
Beschäftigten Sie sich im Büro mit den Tendenzen des zirkulären Bauens und der sozialen Nachhaltigkeit?
Gerald Klahr: Wir sehen im zirkulären Bauen nicht nur die Aspekte der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz, sondern auch das Potenzial, die Geschichten und Erinnerungen des Ortes zu bewahren und weiterzuschreiben. So oszilliert beispielsweise ein im Kirchenraum aufgehängtes historisches Waschbecken aus den ehemaligen Toiletten zwischen einer persönlichen Kontextualisierung, der Funktion als Ausgussbecken für Workshops und der Bedeutung als Ort der rituellen Handwaschung. Generell arbeiten wir schon lange mit zirkulären Materialien und leisten damit einen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit.
Am Beispiel der Martinskirche konnte durch den Beteiligungsprozess und die daraus resultierenden Maßnahmen das Gebäude erhalten und langfristig für spirituelle, soziale und kulturelle Nutzungen erschlossen werden. Der Ort ist zu einem Treffpunkt geworden und macht ein gastfreundliches Angebot im Quartier. Durch gezielte punktuelle Maßnahmen konnten wir größere Eingriffe in die Bausubstanz vermeiden.
Lageplan (© Prinzmetal)
Grundriss Untergeschoss (© Prinzmetal)
Grundriss Erdgeschoss (© Prinzmetal)
Längsschnitt (© Prinzmetal)
Raumlexikon Kirchenraum (© Prinzmetal)
2023
Eckartstraße 2
70191 Stuttgart
Nutzung
Kirche und Gemeindezentrum
Auftragsart
Wettbewerb
Bauherrschaft
Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart
Architektur
Prinzmetal, Köln/Berlin | Gerald Klahr und Aaron Werbick
Mitarbeit: Katrin Stockinger, Sofia Kalafatis, Johann Göhler, Felix Lafont, Manon Gerlier
Fachplaner
Projektsteuerung: NPS Bauprojektmanagement, Stuttgart
Tragwerksplanung: Engelsmann Peters GmbH, Stuttgart
Bauphysik: TEB GmbH, Vaihingen/Enz
Bauakustik: rw Bauphysik ingenieurgesellschaft mbH & Co. KG, Schwäbisch Hall
Brandschutz: umt Umweltingenieure, Ulm
Medientechnik: wireworx, Stuttgart
Heizung / Lüftung / Sanitär: Zeeh, Schreyer - Planungsbüro, Ludwigsburg
Elektroplanung: Zeeb+Frisch, Kirchentellinsfurt
Kunst am Bau
Prinzmetal, Köln/Stuttgart
Taufstein, Orgel
Ausführende Firmen
Rohbau: Schnellerbau, Stuttgart
Ausbau: Die Bauklötze, Murr
Tischlerarbeiten: Schreinerei Muny, Kornwestheim
Metallbau: Schmidt+Drüppel, Böblingen
Sichtestrich: Gipp, Hungenroth
Akustiksystem: Henry Schweizer, Leonberg
Restauratorische Arbeiten, Wandoberflächen: Aedis, Ebersbach-Roßwälden
Restauratorische Arbeiten, Stahlrahmenfenster: Glaskunst Krumholz
Restauratorische Arbeiten, Holzfenster/Außentüren: Fensterbau Schmid, Tübingen
Restauratorische Arbeiten, Holzinnentüren: Schreinerei Werner u. Marcel Braun, Stuttgart
Restauratorische Arbeiten, Naturstein: Claus Schlemmer, Stuttgart
Orgelbau: Mühleisen, Leonberg
Außenanlagen: Immergrün, Steinheim
Hersteller
Linienleuchten: Entwurf Prinzmetal
Hersteller Objektleuchten Berlin, Berlin
Energiestandard
keiner aufgrund des Denkmalschutzes
Bruttogeschossfläche
2327 m2
Gebäudevolumen
10'366 m3
Kubikmeterpreis
695 €/m3 brutto (KG 200–700)
Gebäudekosten
5.2 Mio. € brutto (KG 300–400)
Gesamtkosten
7.2 Mio. € brutto (KG 200–700)
Auszeichnung
Nominierung für den DAM-Preis
Fotos
Brigida Gonzalez