Nachhallgalerie in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin von Knipper Helbig

Nachhal(l)tig

Thomas Geuder
5. de novembre 2018
Moderne Ingenieurskunst trifft in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin auf klassische Formsprache. (Bild: Gordon Welters / Staatsoper Unter den Linden)

Projekt: Nachhallgalerie in der Staatsoper Unter den Linden (Berlin, DE) | Ingenieure: Knippers Helbig Advanced Engineering (Stuttgart, DE) | Architektur: hg merz (Berlin, DE) | Bauherr: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Berlin, DE) | Hersteller: Fiber-Tech Construction GmbH (Chemnitz, DE), Kompetenz: glasfaserverstärkter Phosphat-Keramik (CBPC) | weitere Projektdaten siehe unten

Acht lange Jahre hatte die Sanierung der Staatsoper Unter den Linden gedauert, begleitet von teils heftigen und kontroversen politischen wie kulturellen Diskussionen (wir berichteten: Rokoko remastered). An deren Ende hat die Stadt ein Opernhaus erhalten, das sich trotz Erneuerung der inneren Infrastruktur und der für die Zukunft ertüchtigten Technik optisch kaum wahrnehmbar verändert hat. Vor allem der Zuschauersaal, der in seiner heutigen Form aus den 1950er-Jahren stammt (entworfen von dem Architekten Richard Paulick), war den Parteien ein wichtiges Anliegen, weswegen bei der Sanierung der Denkmalschutz stark berücksichtigt werden musste. Dem gegenüber stand im Prinzip der Wunsch des Generalmusikdirektors Daniel Barenboim, die Akustik in dem Zuschauerraum merklich zu verbessern, denn dessen Klangbild war bisher durch eine sehr geringe, ungünstige Raumresonanz bestimmt. Seit den 1990er-Jahren wurde deswegen sogar eine elektronische Nachhallverlängerungsanlage genutzt, jedoch war es nun im Zuge der Sanierung das Ziel, die Nachhallzeit auch ohne technische Unterstützung zu verlängern.

Das Planungsteam entschied sich für die Anhebung der Original-Saaldecke um fünf Meter – das dadurch zusätzlich gewonnene Raumvolumen dient nun als Nachhallgalerie. (Bild: Gordon Welters / Staatsoper Unter den Linden)

So brachte Prof. HG Merz, der die Generalsanierung seit 2009 leitete und die Infrastruktur hinsichtlich Barrierefreiheit, Klimatechnik, Sicherheit, Brandschutz und eben auch Akustik modernisiserte, eine spezielle Lösung auf den Tisch: Ohne das Gebäude von außen zu verändern und ohne den Zuschauerraum optisch zu beeinflussen, sollte die Decke um vier Meter angehoben werden. Dadurch konnte ein zusätzliches Raumvolumen von rund 3000 m³ erzeugt werden, mit dem die Nachhallzeit schließlich von rund 1,1 auf 1,6 Sekunden erhöht werden konnte. Über dem dritten Rang entstand durch diese Maßnahme ein großer Hohlraum, der fortan als Nachhallgalerie fungierte. Zum Zuschauerraum abgegrenzt wird diese nun durch ein filigranes Rautenmuster, dessen Gestaltung dem Formenkanon des Denkmals folgt und sich somit elegant und wie selbstverständlich in die für die sozialistischen Verhältnisse ungewöhnlich prunkvollen Ornamentik des Architekten Richard Paulick.

Der durch die Anhebung gewonnene Raum wurde auch für die zusätzliche Technik verwendet. (Bild: Gordon Welters / Staatsoper Unter den Linden)

Mit der Herstellung des Rautenmusters betraten die Ingenieure von Knippers Helbig Avanced Engineering Neuland. Zum Einsatz kam glasfaserverstärkte Phosphat-Keramik (CBPC). Mit ihr konnte die organische, rund 250 m² große Form im Gießverfahren bewerkstelligt werden. Außerdem erfüllt dieses Material die vorgegebenen Brandschutzanforderungen (A1) und lässt sich mühelos in die bestehende Architektursprache einfügen. Die mechanischen Eigenschaften sind gekennzeichnet von einem hohen Verhältnis von Festigkeit zu Eigengewicht. Ähnlich wie bei Beton ist die Zugfestigkeit jedoch im Vergleich zur Druckfestigkeit gering. Daher wurde die Phosphat-Keramik mit Lang- und Kurzfasern aus Glas verstärkt. Kontinuierliche Stränge – sogenannte „texturierten Rovings“ – wurden entsprechend der sich kreuzenden Rautendiagonalen über mehrere Lagen in die Keramikmasse einlaminiert. An der Oberfläche wurden zusätzlich Kurzfasern integriert, um eine rissfreie Optik sicherzustellen. Für all das musste eine Zustimmung im Einzelfall eingeholt werden, die gemeinsam mit der Materialprüfanstalt MPS in Stuttgart ermittelt wurde.

Die eigens entwickelte, schalltransparente Rautenstruktur schließt die durch das Anheben der Saaldecke entstandene Lücke zwischen oberstem Rang und Saaldecke. (Bild: Gordon Welters / Staatsoper Unter den Linden)

Die so entstandene Raumstruktur besteht aus insgesamt 13 sphärisch gekrümmten Elementen, die durch Fugen aus Messingprofilen getrennt sind. Die Ingenieure konnten die Geometrie der einzelnen Elemente soweit optimieren, dass eine Reduktion auf insgesamt fünf verschiedene Geometrien erzielt wurde. Für die 13 Abzüge waren somit nur fünf Formen erforderlich. Die Gießformen wurden mittels eines fünfachsigen Portalroboters in einen PUR-Hartschaum CNCgefräst, gesteuert von den Daten aus den parametrisch generierten 3D-Modellen. In die fertigen Formen wurden anschließend die Keramik und die Fasern eingebracht. Umgesetzt wurde all dies von der Fiber-Tech Construction GmbH aus Chemnitz, die eigens für dieses Vorhaben Fertigungsabläufe sowie Montagehilfen entwickelte. Die Schalenelemente wurden vor Ort schließlich mittels eines Krans durch eine Dachöffnung eingebracht und auf dem saalfüllenden Raumgerüst mit Luftkissenschlitten zum Einbauort transportiert.

So ist es den Planern von Knippers Helbig zusammen mit Fiber-Tech und hg merz gelungen, ein weiteres Kapitel in der wechselhaften Baugeschichte der Staatsoper Unter den Linden zu schreiben. Die Musiker und die Zuhörer werden es ob der nun besseren Akustik danken. Architektur-Fans werden die neue räumliche Großzügigkeit im Innenraum zu schätzen wissen. Und die geneigten Ingenieure werden beim Blick nach oben erkennen, dass hier Meister ihres Fachs am Werk waren. Nicht zuletzt deswegen wurde das Projekt beim Deutschen Ingenieurbaupreis 2018 mit einer Anerkennung bedacht.

Wichtig für die Inspiration war die Formen- und Mustersprache von Räumen wie dem Apollosaal. (Bild: Marcus Ebener / Staatsoper Unter den Linden)
Insgesamt 13 zweigeteilte Segmente waren nötig, um die Nachhallgalerie mit der Rautenstruktur zu versehen. Die filigran wirkende Tragwerkstruktur integriert sich bestens in den historischen Saal. (Zeichnung links: Knippers Nelbig, Bild rechts: Marcus Ebener)
Bei der Fertigung kam ein fünfachsiger Portalroboter zum Einsatz, der die Gussformen in PUR-Hartschaum fräste. (Bild: Knippers Helbig)
Die Geometrie der einzelnen Elemente ist soweit optimiert, dass eine Reduktion auf insgesamt fünf Geometrien erzielt werden konnte. (Bild: Fiber-Tech Construcion GmbH)
Kontinuierliche Stränge, sogenannte „texturierten Rovings“, wurden entsprechend der sich kreuzenden Rautendiagonalen über mehrere Lagen in die Keramikmasse einlaminiert. (Bild: Fiber-Tech Construcion GmbH)
Die Schalenelemente wurden mittels eines Krans durch eine Dachöffnung eingebracht und auf dem saalfüllenden Raumgerüst mit Luftkissenschlitten zum Einbauort transportiert. (Bild: Fiber-Tech Construcion GmbH)
Seit Ende 2017 erstrahlt die Staatsoper Unter den Linden im historischen Kern Berlins nun in neuem Glanz. (Bild: Marcus Ebener / Staatsoper Unter den Linden)

Projekt
Nachhallgalerie in der Staatsoper Unter den Linden
Berlin, DE

Tragwerkplanung, Material- und Prüfkonzept
Knippers Helbig Advanced Engineering
Stuttgart, DE

Team
Jan Knippers, Matthias Oppe, Florian Scheible, Laurent Giampellegrini

Architektur
hg merz architekten museumsgestalter
Berlin, DE

Bauherr
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt
Berlin, DE

Hersteller, Montage und Fertigung
Fiber-Tech Construction GmbH
Chemnitz, DE

Kompetenz
glasfaserverstärkter Phosphat-Keramik (CBPC)

Materialversuche und Überwachung
Materialprüfungsanstalt (MPA) Stuttgart
Stuttgart, DE

Auszeichnung
Deutsche Ingenieurbaupreis 2018, Anerkennung

Fertigstellung
2017

Fotografie
Gordon Welters
Marcus Ebener
Fiber-Tech Construcion GmbH
Knippers Helbig Advanced Engineering
 



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