Holen wir uns die Straße zurück
Elias Baumgarten
25. de setembre 2024
Foto: Elias Baumgarten
Auch die Schweiz ist ein Autoland: Ortsdurchfahrten und Quartierstraßen sind zumeist für den motorisierten Verkehr gestaltet – zulasten der Aufenthaltsqualität und des Stadtklimas. Alternativen zeigt ein Buch der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften auf.
Schwups, weg sind oft meine Gedanken, wenn ich das Wohnzimmerfenster öffne. Ich höre sie dann nicht mehr. Da sind nur noch aufheulende Motoren, genervtes Hupen, wummernde Autoradios. Dazwischen heiseres Gekeife – jemand ist an der Ampel zu langsam losgefahren. Riechen tut es auch nicht besonders fein: In meiner Nase sticht der Geruch malträtierter Kupplungen, heißer Bremsen und von Dieselabgasen. Ich wohne an einer der größten Einfallstraßen der Schweizer 120'000-Einwohner-Stadt Winterthur – in zweiter Reihe eigentlich, doch das nutzt nicht viel. Im neuen Buch »Städtebau beginnt an der Strasse« lese ich: »Die Gestaltung der Strassenräume soll wieder im Dienste der Bewohner:innen und Passanten:innen stehen.« Bravo! Mir jedenfalls spricht das aus der Seele. Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud fordern einen Wandel zu mehr Fuß- und Radverkehr in Kombination mit einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetz. Dazu nötig sei eine »Umgestaltung und Neuaufteilung der Strassenräume und eine stärkere Vernetzung mit den unterschiedlichen Aktivitäten innerhalb des Quartiers«. Doch wie kann das gelingen? Schließlich erfreut sich das Auto in der Schweiz nach wie vor größter Beliebtheit: 80 Prozent der Haushalte besitzen laut Statistischem Bundesamt eines, jeder dritte sogar zwei oder mehr. Zu Fuß gehen die Menschen dagegen ungern: Nur etwa 5 Prozent der Tagesdistanz läuft der Durchschnitt. Noch unbeliebter sind Fahrräder und E-Bikes: Mit ihnen werden täglich nur 0.9 Kilometer zurückgelegt. Experten wie ETH-Professor Kay W. Axhausen meinen, das liege auch daran, dass Menschen sich auf dem Rad durch Autos gefährdet fühlen.
Foto: Elias Baumgarten
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Den Schlüssel zu einer positiven Veränderung sehen Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud in einer neuen Planungskultur und veränderten Qualitätskriterien für Straßenräume. Ihr Buch beginnen die drei Forschenden des Instituts Urban Landscape der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit einer sehr gelungenen, kurzweiligen historischen Einführung, in der sie auf die Entwicklung im Kanton Zürich fokussieren. Schon ab den 1930er-Jahren, erfährt man in diesem Kapitel, wurden Fußgänger von den Zürcher Straßen auf das Trottoir verbannt, um den Autos freie Fahrt zu garantieren – obwohl sich dazumal kaum jemand ein Auto leisten konnte und nur jede 67. Person eines besaß. Umgekehrt forderten Einzelpersonen wie der Architekt und Raumplaner Hans Marti schon Anfang der 50er-Jahre eine Abkehr von der autogerechten Stadt.
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Zum Hauptteil des Buchs gehört die vergleichende Analyse zwölf ausgewählter Schweizer Straßenräume – von der geschäftigen Zürcher Langstraße über die baumbestandene Wülflingerstraße in Winterthur bis zu den Dorfstraßen von Fällanden und Balerna. Mit Fotos und Plänen dargestellt, werden diese Ortsdurchfahrten, die täglich jeweils über 10'000 Fahrzeugen passieren, auf ihre Nutzung und Bebauung sowie ihre sozialen und ökologischen Vorzüge und Probleme hin untersucht. Ich realisiere: Gute Straßenräume zu planen, ist eine verzwickte Aufgabe. Bebauungsstrukturen, die für den Lärmschutz und eine hohe Dichte vorteilhaft sind, können zum Beispiel ökologisch und hinsichtlich des Stadtklimas ein Nachteil sein. Interessant ist auch, dass es von altgewachsenen Anlagen wie der Gutstraße in Zürich mit ihren Vorgärten, Hecken und Bäumen einiges zu lernen gibt.
Foto: Elias Baumgarten
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Schließlich diskutieren Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud neue Qualitätskriterien für Straßenräume und skizzieren neue Planungsstrategien. Im Kern muss künftig interdisziplinärer gearbeitet werden. Hoch- und Tiefbauämter müssen sich abstimmen, statt weiter nebeneinanderher zu wursteln. Wichtig ist auch, die Bevölkerung einzubinden und das Expertenwissen der Betroffenen abzuholen. Denn bei der Gestaltung von Straßenräumen gilt es viele unterschiedliche, bisweilen auch widersprüchliche Interessen in Einklang zu bringen. Das ist überzeugend. Nur: Lassen sich all die klugen Vorschläge praktisch implementieren und sind die Forderungen auch politisch durchsetzbar? In Winterthur wenigstens tut sich tatsächlich etwas: Die Stadtautobahn wird zwar ausgebaut, aber in den Untergrund verlegt, sodass die Lebensqualität der Menschen im Stadtteil Töss steigt. Und vor wenigen Wochen hat die Bevölkerung die Gegenvorschläge zur Stadtklima-Initiative angenommen. Damit ist der Weg frei für die Entsiegelung von immerhin 80'000 Quadratmeter Straßenfläche bis 2040 – deutlich mehr als der Stadtrat ursprünglich vorhatte.
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