Gisela Schmidt-Krayer: Zeitgenössische Adaption regionaler Bauweisen

Eduard Kögel
2. de novembre 2022
Gemeindehaus in Engelskirchen, Innenraum Verbindungsgang (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)

Vor 50 Jahren verstarb Hans Scharoun (1893–1972), der in seiner Genialität immer auch etwas eigenbrötlerisch blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete er an der Technischen Universität Berlin die Nachkriegsgeneration in seinem besonderen Architekturverständnis des Neuen Bauen, das von Frank Lloyd Wright inspiriert war und er betrieb sein eigenes Büro, in dem eine Reihe von jungen Architekten arbeiteten. In einer kleinen Serie stellen wir hier einige seiner ehemaligen Mitarbeiter und Studenten vor, die bis heute in seinem großen Schatten blieben.

Gisela Schmidt-Krayer (*1938) stammt aus einer Architektenfamilie, wo bereits der Großvater, der Vater und der Bruder den Beruf des Architekten ausübten. Unter ihrem Mädchenname Gisela Rahne studierte sie zwischen 1957 und 1959 bis zum Vordiplom an der TH Stuttgart. Für ein Praktikum kam sie dann nach Berlin, u. a. ins Büro von Hans Scharoun. Das Hauptstudium an der TU Berlin schloss sie im Juni 1965 bei Bernhard Hermkes ab. In ihrer Diplomarbeit befasste sie sich mit einer Ferien-Volksschule auf Sylt, bei der der Einfluss von Scharoun deutlich zum Tragen kommt. Mit polygonalen Baukörpern und zusammengesetzten Strukturen schlug die Architektin eine gestaltete Landschaft von Baukörpern vor, die sich in die Umgebung fügte und vielfältige Platz- und Hofsituationen einschloss. Die Scharounsche Idee eines „Raums der Mitte“, der dem Bauensemble ein Zentrum geben sollte, finden sich nicht nur in der Diplomarbeit, sondern auch in anderen frühen Projekten der Architektin.

Gisela Schmidt-Krayer auf der Baustelle der Philharmonie, 1961 (© Archiv Gisela Schmidt-Krayer)
Diplomentwurf für ein Freizeitdorf auf Sylt, 1965 (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)

Parallel zum Studium arbeitete sie immer wieder im Büro von Hans Scharoun, wo sie z. B. die Bauleitung für dessen Wohnung in Charlottenburg Nord übernahm. Zwischen 1960 und 1963 plante das Büro Scharoun intensiv an der Philharmonie, dem ersten größeren Gebäude des Büros nach dem Krieg, bei dem die junge Architektin Erfahrungen sammelte. 1966 zog sie, nach der Heirat als Gisela Schmidt-Krayer, wegen der Liebe ins Oberbergische Land, in die Nähe von Gummersbach, wo sie in den folgenden Jahren im Oberbergischen Kreis über 60 Projekte realisieren konnte. Insgesamt umfasst ihr Werkverzeichnis 213 Positionen, davon viele kleinere Eingriffe, Sanierungen und Erweiterungen. Bevor sie in die ländliche Region in Westdeutschland zog, besuchte sie als Gasthörerin Veranstaltungen bei Louis Kahn in Philadelphia und schaute sich die Bauten von Frank Lloyd Wright an, die ihre Auffassung von Architektur beeinflussten.

Kita Berghausen (© Bildarchiv Foto Marburg / Gerhard Ullmann)
Lageplan der Kita Berghausen (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Kita Berghausen, Modell (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Bauten in Berghausen

Eines der ersten realisierten Projekte war ein Kindergarten mit zwei Wohneinheiten in Berghausen, der zwischen 1969 und 1972 in Zusammenarbeit mit Hinrich und Inken Baller entstand. Die Kita hat zwei Gruppenräume für je 30 Kinder, sowie einen Gemeinschaftsraum, der eigentlich aus der Zusammenlegung der Verkehrsflächen entstand. Im dörflichen Kontext der zweigeschossigen Wohnbauten mit Satteldach fügt sich der Kindergarten erstaunlich gut zwischen die Hausgärten und die traditionelle Bebauung. In der Kita vermitteln vielfältige Beziehungen zwischen Innen und Außen, und die individuellen Raumformen werden unter einem polygonalen, mehrfach geneigten Dach zusammengefasst. Die vielfältigen Raumerfahrungen standen hier in starkem Kontrast zur ortsüblichen Bauweise, wie sie in der kastenförmigen Schule in der Nachbarschaft zum Ausdruck kommt. Die für Scharoun typische Verbindung zwischen Landschaft und Architektur wurde hier in einem kleinen Bau vorgeführt, der für das Dorf eine neue Erfahrung mit sich brachte.

Parallel zum Kindergarten entstand ein Wohnbauprojekt (1970–1972) in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller am Ortsrand von Berghausen. Eine Wohnbaugesellschaft beauftragte als Alternative zu Einfamilienhäusern eine kompakt geplante Wohnterrassenanlage am Hang mit 80 Einheiten im sozialen Wohnungsbau. Realisiert wurde allerdings nur der erste Bauabschnitt mit 36 Wohnungen. Die Anlage ist nach Südwesten orientiert und der Ausblick richtet sich in ein Landschaftsschutzgebiet. Jede Wohneinheit hat eine mit einem Pflanztrog geschützte Gartenterrasse, die Privatsphäre direkt an der Wohnung ermöglicht. Die Materialien wurden in ortsüblicher Tradition verwendet, wie z. B. Schieferschindeln für die Fassaden. Heute ist der ehemalige soziale Wohnungsbau in Eigentumswohnungen umgewandelt und immer noch in einem sehr guten Zustand.

Nach den Plänen von Otto Bartning entstand 1951 ebenfalls in Berghausen eine evangelische Notkirche des Typs „Diasporakapelle“, von denen 33 erbaut wurden. Den Auftrag zur Erweiterung mit einem Gemeindehaus realisierte Gisela Schmidt-Krayer zwischen 1974 und 1975. Die Kirche ist auf rechteckigem Grundriss erbaut und als Erweiterung für das Gemeindehaus plante die Architektin einen ebenfalls rechteckigen Baukörper, den sie mit einem geschlossenen Hof von der Kirche trennte. Der Neubau ist ein mit Schiefer verkleideter Holzbau, der mit einem Pultdach im Kontrast zum asymmetrischen Satteldach der Kirche steht, die jedoch ebenfalls in lokaler Tradition mit Schiefer verkleidet ist. Im Gegensatz zur relativ geschlossenen Kirche, ist der Anbau transparenter zur Landschaft, passt sich aber im Grundriss formal dem Bestandsbau an.

Flurplan Berghausen mit Kita (1), Wohnungen (2) und Gemeindehaus (3) (Plan © Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Terrassenhäuser Berghausen (© Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Gerhard Ullmann)
Terrassenhäuser Berghausen, Schnitt (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Terrassenhäuser Berghausen (© Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Gerhard Ullmann)
Funktional im kritischen Regionalismus

Insgesamt baute die Architektin zwölf Gemeindehäuser im Oberbergischen, die als Ergänzungsbauten für die kirchliche Gemeindearbeit notwendig wurden. Das Gemeindehaus in Engelskirchen (1980–1982) war anspruchsvoll und komplexer als viele andere. Auf dem Grundstück standen eine neogotische Kirche sowie ein Pfarrhaus und eine alte Schule, die symmetrisch zur Kirche an der Straße den Eingang rahmen. Eigentlich sollten die aus massivem Stein gemauerten Gebäude für das Pfarrhaus und die Schule abgerissen werden. Mit ihrem Entwurf für die Neukonzeption des Gemeindehauses erhielt Gisela Schmidt-Krayer als einzige die beiden Bestandsbauten und nahm die neogotische Formensprache der Kirche für den Erweiterungsbau auf. Mit diesem Konzept gewann sie den Wettbewerb, indem sie den Neubau zurückgesetzt anordnete und mit einer Art Kreuzgang mit den Bestandsbauten verband. Die Neubauten wurden in einer neogotischen Formensprache in Holz ausgeführt, die im Innenraum eine Vielzahl von Kuppeln entstehen ließ. Das Dach und die Fassaden sind mit lokalen, dunklen Schieferschindeln verkleidet.

Ihre Erfahrungen mit dem regionalen Bauen konnte sie für ein Projekt auf der nördlich von Sizilien liegenden Insel Alicudi anwenden, wo sie zwei kleine baufällige Bauernhäuser am Hang mit einfachsten Mitteln zu einem neuen autarken Ferienhaus umbaute (1980–1998). Ende der Neunzigerjahre kam Gisela Schmidt-Krayer durch einen Zufall nach Melbu auf einer kleinen Insel in Nordnorwegen, wo sie danach über zwanzig Bauten errichten konnte. Wie zuvor im Oberbergischen Land orientierte sich die Architektin an der lokalen Bautradition und gestaltete die Neubauten unprätentiös im Kontext des Bestandes.

Verbindungsgang Engelskirchen (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Engelskirchen, Lageplan (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)

Gisela Schmidt-Krayer betrieb ihr Büro zwischen 1966 und 1998 in Hülsenbusch bei Gummersbach und hatte ab 1996 parallel dazu ein Büro in Berlin. Ab 1994 unterrichtete sie mit Lehraufträgen, als Gastprofessorin und ab 2000 als Honorarprofessorin an der GH Kassel, und zwischen 2000 und 2008 am Lehrstuhl für Bauen im Bestand an der BTU Cottbus.

Schon von Anfang an befasste sich Gisela Schmidt-Krayer mit den lokalen Traditionen des ländlichen Bauens im oberbergischen Land und übernahm z. B. sensibel den Einsatz der lokalen Materialien wie Holz und Schiefer. Waren die Grundrisse der frühen Projekte noch stark von den Ideen von Scharoun geprägt, so emanzipierte sie sich mehr und mehr davon. Ihre Auseinandersetzung führten zu einer Adaption der regionalen Bauweisen, wobei sie immer bewusst einen zeitgenössischen architektonischen Ausdruck entwickelte. Der Respekt vor dem Bestand und die denkmalgerechte Restaurierung führten sie von den architektonischen Landschaften ihres Mentors Scharoun zu einem kritischen Regionalismus, der einerseits schon sehr früh in der Materialwahl zum Ausdruck kam, und der sich andererseits als Haltung auch auf andere Orte übertragen ließ.

Studentenwohnungen Norwegen (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)

Projektliste Gisela Schmidt-Krayer

(Auswahl aus den realisierten Bauten)

– Kindergarten in Berghausen, 1969–1972 (in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller)
– Wohnterrassen Berghausen 1970–1972 (in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller)
– Anbau an eine Otto Bartning-Notkirche, Berghausen 1974–1975
– Gemeindehaus Engelskirchen, 1980–1982
– Fassadensanierung Wasserschloss Ehreshoven, 1989–1990
– Produktionshalle in Kaiserau, 1990–1991
– Kindergarten Marienheide, 1991–1993
– Umbau von zwei Bauernhäuser auf der Insel Alicudi, Italien, 1980–1998


Publikation
Gisela Schmidt-Krayer. Bauten und Projekte 1966—2015. Herausgegeben von Gisela Schmidt-Krayer (unter Mitarbeit von Rahel Melis und Urs Füssler). Eigenverlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-00-062489-6


Bisher in der Reihe erschienen:

Architekt Chen Kuen Lee sah das Bauen als die Fortsetzung der Landschaft mit anderen Mitteln, um so das alltägliche Leben der Nutzer mit der Natur zu verknüpfen – lange bevor Ökologie ein Schlagwort war. Lee arbeitet zwischen 1937 und 1941 sowie 1949 bis 1954 bei Hans Scharoun, den er als seinen Meister ansah. Im Rückblick wird deutlich, dass es eine gegenseitige Einflussnahme war, denn im Diskurs mit ihm lernte Scharoun etwas über die traditionelle chinesische Philosophie, die den Menschen als Teil der Umwelt sieht. Eduard Kögels Artikel zum Architekten erschien bei uns im Mai.

Die Liste der von Stephan Heise (1928 – 2017) realisierten Bauten blieb kurz. In seinem von ihm selbst angelegten Werkverzeichnis werden zwar 53 Positionen aufgelistet, wozu er auch die im Studium gemachten Entwürfe zählte. Er selbst verstand sich als baumeisterlichen Künstler, der von Hans Scharoun die wesentlichen Impulse empfangen hat und den er bis ins hohe Alter sehr verehrte. Obwohl seine Bauten durchaus hohen künstlerischen Stellenwert haben, sind sie eigentlich fast nie in der Fachpresse besprochen worden. Den Artikel über ihn können Sie hier nachlesen.

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