Die Stadt der Zukunft ist gebaut!

Katinka Corts
9. de febrer 2022
Die neu gebaute Ufermauer kann Jakarta nicht vor Überschwemmungen schützen. Dezember 2018 (Foto: Kadir van Lohuizen)

„Der Anfang jeder Entwicklungsarbeit muss ein ehrlicher Blick auf unser Erbe sein“, so Arnold Bartetzky. Diese ehrliche Bilanz und der Blick auf gescheiterte Utopien führe zu der Erkenntnis, so der Leipziger Kunsthistoriker und Architekturkritiker weiter, dass die Stadt der Zukunft schon gebaut ist und dass der aktuelle Bestand ausreicht. Mit diesem muss gearbeitet werden, wolle man die Städte an die Herausforderungen des Klimawandels anpassen. Bartetzky war einer von vielen, die am Symposium in der HALLE 14 der ehemaligen Baumwollspinnerei Leipzig-Lindenau teilnahmen. Organisiert vom Verein HALLE 14 war die Kunsthalle im Westen der Stadt für zwei Tage analoger und digitaler Treffpunkt für zahlreiche Akteure aus Stadtplanung und -forschung, Lehrende von Hochschulen, Architekt*innen, Architekturinteressierte und viele mehr. Pandemiebedingt fand die Zusammenkunft gesplittet statt, was aber sehr löblich organisiert wurde. Zu Beginn der Veranstaltung am Freitag wurden Live-Publikum und die digital Beiwohnenden durch die auslaufende Ausstellung The Future of cities. Not for granted. geführt. In ihr waren seit September 2021 elf künstlerische und architektonische Beispiele zu sehen, wie Menschen auf die Herausforderungen aus Klimawandel, Digitalisierung und Migration reagieren.

Aufhören, immer neuen Utopien nachzujagen

Den anschließenden Einführungsvortrag zum Symposium hielt die in London am Royal College of Art lehrende Architekturtheoretikerin Ines Weizman, die unter anderem an der Bauhaus-Uni Weimar studiert hat. Ihr Thema waren die Zeitschichten der Städte und wie man damit (besser) umgehen könne. So gab es in den Jahren nach der politischen Wende zahlreiche Publikationen, in denen Bilder der baulich vernachlässigten ostdeutschen Städte jenen Bildern gegenübergestellt wurden, die dieselben Orte und Bauten nach der Sanierung zeigen. Auch wenn derlei Sanierungen größtenteils einen Gewinn für die Stadt brachten – sieht man von betrügenden Immobilienunternehmern wie Jürgen Schneider ab –, verschwanden mit ihnen zugleich alte Zeitschichten. Solche waren auch Großsiedlungen wie Grünau im westlichen Teil der Halbmillionenstadt. Als die Bauten der Leipziger Innenstadt zu Zeiten der DDR immer unwirtlicher wurden, lockten neue Siedlungen an den Stadträndern mit Zentralheizung, Bad in der Wohnung (und nicht auf halber Treppe wie üblich in Gründerzeitbauten), angemessenen Wohnungsgrößen, Einbettung ins Grüne und Läden des täglichen Bedarfs in nächster Nähe. Die Quartiere waren mit Schulen versehen, es gab Freizeiteinrichtungen und Sportvereine – man wohnte gern in den Neubausiedlungen am Rand der Stadt. Als hier nach der Wende neue Baukörper, z.B. Einkaufszentren in die Anlagen gesetzt wurden, verlor das Gefüge seinen Zusammenhalt und auch das bisherige Ansehen, die Großsiedlungen wurden zu einer Art Ghetto derjenigen, die es sich nicht leisten konnten, in die sanierte Innenstadt zu ziehen. Hier müsse nun ein Umdenken erfolgen, so Weizmann, denn alte Fehler zu wiederholen, also die mittlerweile nicht mehr benötigten Einkaufszentren abzureißen, sei schlichtweg eine Ressourcenverschwendung. Vielmehr müsse mit klugen Umnutzungsstrategien ein Weg gefunden werden, einmal gebaute Strukturen in eine neue Funktion zu überführen. Von einer Utopie in die nächste zu laufen, sollte nicht mehr die Lösung sein.

Blick in die Ausstellung (© HALLE 14, Foto: Walther Le Kon, 2021)
Lebensqualität steht vor Technik in der intelligenten Stadt

Wieder ist es der ehrliche Blick auf das Erbe, den Bartetzky und viele andere anmahnten, und immer wieder kam die Forderung danach auf, bescheidener zu agieren, statt Großprojekte zu entwickeln, die lediglich kurzsichtige Interessen befriedigen. Zugleich warnte Stephan Sigrist, der in Zürich den Think Tank W.I.R.E. (Web for Interdisciplinary Research & Expertise) gegründet hat, dass intelligente Städte nicht nur effizienzgetrieben sein dürfen, sondern vor allem die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen muss. In den Köpfen vieler Menschen wäre die Zukunft der Städte schon recht konkret – der Verzicht auf Verbrennungsmotoren, der Einsatz autonomer Fahrzeuge, begrünte Gebäude für mehr Nachhaltigkeit und die digitale Vernetzung als Grundlage für Effizienz und Sicherheit. Wichtig sei aber auch, die Lebensqualität im urbanen Raum und die eigenen Freiheitsgrade neu zu definieren. Viele digitale Anwendungen scheiterten immer noch daran, dass gesellschaftliche Faktoren nicht berücksichtigt werden. Auch bei ihm der Satz: Die Stadt der Zukunft ist gebaut! Nun brauchten wir übergreifende Kooperationen als Grundlage für eine wirklich intelligente Stadt. 
Bei einer auf die Gesellschaft und sozial ausgerichteten Stadt müsse jedoch die Öffentlichkeit auch mehr Verantwortung für Wohnen und Gemeinwohl übernehmen, so Andrej Holm. In seinen Ausführungen betonte der Berliner Sozialwissenschaftler, dass Gemeinwohlorientierung und private Gewinnmaximierung nicht miteinander in Einklang gebracht werden können. Rechtliche Grundlagen seien nur solange hilfreich, bis Private dagegen klagen würden oder Schlupflöcher in der Gesetzgebung gefunden hätten. Auch seien Förderprogramme keine Lösung für sicheres soziales Wohnen, denn sie sind zeitlich befristet. Ist ein Programm zudem nicht attraktiv genug, wird darein nicht investiert werden – was schlussendlich zur Anpassung der Programme führe.

Aus Reibung und Diskurs Dinge entstehen lassen

Da Ästhetik und Schönheit einen schwierigen Stand in der städtebaulichen Diskussion haben, schlagen die Diskussionsteilnehmer*innen vor, stattdessen mehr auf Aufenthaltsqualität und die Dinge in einer Stadt zu achten, die den Raum angenehm machen – das sei dann auch nachhaltig. Die Post-Covid-Stadt wird sowieso eine andere sein, da in der Pandemie zahlreiche bestehende Themen mehr Raum in den Diskussionen gefunden haben. Wie gehen wir zukünftig mit Büroflächen um? Wie und wo begegnen wir uns im Alltag? Wie wichtig ist der Einzelhandel in der Stadt und (wie) kann er auch zukünftig funktionieren? Auch wenn es aktuell schmerzt, in den Erdgeschossen der Städte Leerstand zu begegnen, vielleicht ist er auch eine Chance. Früher, so wurde in der Diskussionsrunde angeführt, erdrückten unzählige Kaufhäuser die Innenstädte, heute gibt es immer weniger. Man weine den Kaufhäusern nun hinterher und verstehe nicht, dass damit auch Chancen für Neues einhergehen. „Wir plädieren dafür, nicht ins Jammern zu verfallen, sondern auch die Chancen zu sehen“, hieß es dann. Und: die Welt mit Lust zum Unterschied und zum Diskurs zu betrachten und sich freudig uneins zu sein, weil daraus Neues entstehe.

Blick in die Ausstellung (© HALLE 14, Foto: Walther Le Kon, 2021)
Dem Gemeinsamen Formen geben

Zu Beginn des Symposiums war scheu in den Raum gestellt worden, dass das Ergebnis der zwei Tage womöglich eine Ergänzung zur Leipzig-Charta sein könne. Ebendiese 2007 in Leipzig von allen 27 in der Europäischen Union für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Ministern unterzeichnete Charta hat in ihrer ersten Fassung 2007 Bausteine zur resilienten Stadt enthalten. In der neueren Fassung von 2020 werden nicht mehr nur die Aufgaben benannt, sondern auch, nach welchen Prinzipien europäische Stadtplanung funktionieren muss, um gerechte, grüne und produktive Städte zu ermöglichen. Gerade das Betrachten bestehender und gescheiterter Modelle hilft dabei, Beobachtungen anzustellen und daraus zu lernen. Auf dem Podium hieß es: Architekt*innen hätten den Anspruch, Schönheit zu hinterlassen, zugleich sollten sich Planer*innen von dem Gedanken verabschieden, für die Ewigkeit zu bauen. Die Stadt im Wandel brauche mehr temporäre Strukturen, denn es gehe in der Zukunft nicht darum, Räume zu gestalten, sondern vielmehr darum, dem Gemeinsamen Formen zu geben. Städtischen Raum als Experimentierraum betrachten, Bottom-Up- und Selbstbau-Projekte zulassen, wo immer möglich, seien dabei wichtige Faktoren. Ein möglicher Weg könnte sein, nicht nur das Prozessdesign gemeinsam mit allen Interessensvertretern zu entwickeln, sondern diese auch auf Dauer in den Projekten zu halten. Eine Art „Gemeinwohlquote“, also eine festgeschriebene Quote für die Beteiligung von gemeinnützigen Organisationen an Bauprojekten, könnte intensive Teilhabe zum neuen Standard werden und Leuchttürme des Experiments schaffen.

Bodenpolitik als treibender Faktor

Der Gedanke, die wichtigsten Punkte aller Diskussionen in einem Thesenpapier zusammenzufassen und dieses zu verbreiten, bestand weiterhin zum Ende des Symposiums. Doch es braucht Öffentlichkeit für diese Themen, und nicht nur Debatten im kleinen Kreis. Wie einer der Teilnehmer sagte: Die großen Entwickler und Investoren sitzen bei derlei Podien nie ganz vorne und dabei wäre es das Ziel, hier den Hebel anzusetzen und mehr Verständnis zu erreichen. Eines der wichtigsten Themen wird sein, zukünftig gemeinwohlorientierteter Bodenpolitik einen zentralen Wert beizumessen. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, Eigentum abzuschaffen. Aber es könnte und sollte mit einer konkreten sozialen Pflicht verbunden werden. Das aktuelle Spiralsystem treibt die Geldmacherei an und die Preise nach oben, zugleich belohnt der Staat Immobilienverkäufe nach zehn Jahren mit Steuerfreiheit. Dabei könnte man hier ansetzen: Die Mieten nach zehn Jahren steuerlich zu entlasten oder gar zu befreien, gäbe Vermietern einen Anreiz, Immobilien und Mieter*innen zu behalten und würde die Möglichkeit schaffen, eine neue Art von Mieter-Vermieter-Verhältnis zu etablieren. Leipzig als eine der wichtigsten und am schnellsten wachsenden Städte im Osten Deutschlands hat seit dem Nachwende-Ausverkauf des Immobilienmarktes schmerzlich erfahren, wie finanzielle Interessen ganze Stadtgefüge zerstören können. Ob Familien, Alte, Studierende, Kreative oder Künstler*innen – jene, die die Stadtteile Lindenau und Plagwitz einst bewohnten, können sich dort kaum mehr Wohnungen oder Ateliers leisten, seit Abriss, Neubau oder Luxussanierung regieren. Doch die Kreise dieser Preisspirale und die damit einhergehende Vernachlässigung des Gemeinwohls kann sich keine Stadt mehr leisten, die nicht sehenden Auges immer tiefer in soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten geraten will – was auch ganz sicher nicht der klimapolitischen Zukunft der Stadt zuträglich ist.

„HALLE 14 - Zentrum für zeitgenössische Kunst“ in Leipzig
Das ehemalige Fabrikgebäude wurde von 2008 bis Dezember 2012 gemäß bestehendem Nutzungskonzept saniert und ausgebaut. Das Besucherzentrum sowie die Ausstellungsflächen, Werkstätten und Lagerräume wurden sukzessive fertiggestellt. Ziel bei Sanierung und Ausbau war der Erhalt der Authentizität und Großflächigkeit. Im Besucherzentrum der HALLE 14, der Ausstellungsfläche im Erdgeschoss, den Partnerflächen im 2. Obergeschoss und dem Atelier des Kunstvermittlungsprogramms wird der behutsame Umgang mit diesem Industriedenkmal aus der Gründerzeit sichtbar. 

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