Schuh-loser Kunstgenuss

Ulf Meyer
23. agosto 2017
Hiroshi Sugimotos, «Seascapes» (Bild: Benesse House)

Spätestens mittags, wenn das Sonnenlicht die Oberfläche des japanischen Binnenmeeres in einen Silberteller verwandelt, bekommt Nao-shima seine auratische Atmosphäre. Vom höchsten Punkt der Insel fällt der Blick auf die Skyline der Großstadt Takamatsu und auf riesige Hängebrücken am Horizont, die zwei der vier japanischen Hauptinseln miteinander verbinden. Auf dem Hochpunkt der Insel liegt das «Chichu Bijutsukan» (dt.: Kunstmuseum in der Erde) von Tadao Ando, der weidlich Gebrauch von der privilegierten Lage des Museums macht, indem es raffiniert Blicke rahmt und auf point de vues lenkt. Das Museum ist nur drei Künstlern gewidmet: Monet, Turrell und de Maria – eine ungewöhnliche Kombination – es ist der bisherige Klimax der Verwandlung der Fischer-Insel in ein Gesamtkunstwerk.

(Bild: Benesse House)

Der Kunstgenuss folgt einer ausgefeilten Raum-Dramaturgie – zunächst führt der Weg geradewegs hinein in den Berg. Unverkleidete Wandscheiben aus Beton definieren Wege und Höfe. Die Schroffheit der grauen Oberflächen weicht bei Berührung einer haptischen Sensation: Andos Sichtbeton-Oberflächen stehen im Ruf «so weich wie ein Kinder-Popo» zu sein. Eine spezielle Behandlung der Schalung macht das möglich. Alle Wände sind im Raster liegender Tatami-Matten proportioniert, wodurch sie den menschlichen Maßstab wahren und nie beklemmend wirken.

Jedem Kunst-Raum im Chichu-Museum ist ein Vestibül vorgeschaltet, in dem der blaue Himmel, die immergrüne Vegetation der Insel und der graue Beton aufeinandertreffen. Streng und schön zugleich sind die jungen Damen, die eine Art Judo-Anzug tragen und die hunderte von Malen am Tag die Museumsbesucher bitten, ihre Schuhe auszuziehen. Das ist ihr Beruf. In Socken fühlen die Fußsohlen die leicht gewölbten Oberflächen der weißen Mosaikfliesen, über die Museumsbesucher in den Kunstraum gleiten: Auf leisen Sohlen und im gedämpften Tageslicht wirkt Claude Monets Diptychon noch beeindruckender als sonst. «Seerosen» heißt das gigantische Ölgemälde von 1915-1926, dessen Hälften jeweils zwei mal drei Meter groß sind. Wie ein Altar wird es im gedämpft-weiß leuchtenden Oberlichtsaal präsentiert. Wie die Seerosen auf der Wasseroberfläche, so scheinen auch die fünf Monets in dem Raum zu schweben. Die ätherische Atmosphäre überträgt sich auf die Besucher.

Monets Seerosen im Oberlichtsaal (Bild: Benesse House)

Diese bauliche Inszenierung und kuratorische Zelebrierung von Meisterwerken ist die Spezialität der Insel Nao-shima, die nicht nur bei Kunstfreunden als geeignete Etappe einer Japanreise gilt. Den Genius Loci der Insel kitzelt Andos Architektur heraus. So ist ein «Pilgerort» für Freunde der Kunst und Natur entstanden. Die Architektur verbindet die drei völlig disparaten Oeuvres.

Die Regeln der jungen Frauen im Museum mögen dirigistisch wirken, aber nur mit Formalien ist die «Omotenashi»-Atmosphäre des gepflegten Umgangs zu erreichen! Im ganzen Land herrschen exzeptionelle Sauberkeit, Etikette, Kultiviertheit und Gastfreundschaft wie man sie in Europa nicht kennt. Der Begründer der berühmten japanischen Teezeremonie, Sen no Rikyū, hatte einst die Auffassung geprägt, dass Gastfreundschaft nur «mit Hingabe und reinem Herzen» möglich ist. Damit legte er den Grundstein der Omotenashi-Kultur, der auch das Chichu-Museum prägt.

​Gleich neben «den Monets» hat der Lichtkünstler James Turrell ein begehbares Kunstwerk geschaffen, das Natur und Kunst vereint: Ein Innenhof mit umlaufenden Sitzbänken rahmt mit einem Dachfenster den Himmel so elegant, dass man anfängt, ihn als kinetisches Kunstwerk zu genießen. «Open Sky» heißt Turells Meisterwerk. Es ist ebenso wie die Installationen von Walter De Maria nebenan eigens für diesen Ausstellungsort angefertigt worden. Vor jedem Raum steht eine geduldige junge Dame, die unmissverständlich zu verstehen gibt, dass auch diese Kunstwerke nur straßenschuh-los zu genießen sind.

Der ganz von seiner primären Geometrie lebende, stumpfe Sichtbetonbau kommt allein mit Tageslicht aus. Es fällt dramatisch durch schmale horizontale Schlitze in den monolithischen Wänden. Die im Tagesverlauf wandernden Schlagschatten in den Tiefhöfen verändern sich wie Zeiger einer Sonnenuhr. Wenn am Abend das Tageslicht rar wird, schließt das Museum.

Installation von Walter De Maria (Bild: Benesse House)
Das Benesse-House, gebaut nach Plänen Tadao Andos (Bild: Benesse House)

Die Silbe «Nao» im Namen der Insel Nao-Shima bedeutet «Gradlinig» und passt von daher sowohl zur Architektur als auch zum Museumskonzept. Das Museum wird selbst zum Kunstwerk, umgeben vom «Chichu-Garten» mit 150 Pflanzenarten (darunter natürlich viele Seerosen), die in Monets Bildern oder seinem Garten in Giverny in der Normandie vorkommen. Monet selbst war ein leidenschaftlicher Gärtner. Die Farbenpracht seiner Bilder wird in Japan bewundert und geliebt. In Ostasien gibt es keine vergleichbare Kultur der Farbe in der bildenden Kunst.

Kürbis-Skulptur von Yayoi Kusama (Bild: Benesse House)

Während das Chichu-Museum in seiner Gestaltung radikal modern ist, hat die Idee, Kunst und Natur zugleich zu genießen und mit Gastlichkeit zu verknüpfen in Japan Tradition. Die «promenade architecturale» führt hinauf aus das Kap zum «Benesse House», ebenfalls von Ando entworfen. Der Name wurde 1995 aus den lateinischen Wörtern «bene» und «esse» zusammengesetzt und gibt das Thema des «Wohlbefindens» bereits vor. Das Museum wurde vom Schulbuchverlag «Benesse» gestiftet. Dem Verlagsgründer ist die Entwicklung von Nao-shima zur Kunstinsel zu verdanken. Im Jahr 1985 hatte sich die Benesse-Stiftung mit dem Bürgermeister von Nao-shima auf die neue Bestimmung der Insel als Ort der Künste geeinigt. Zum «Benesse House», das 1992 als erstes Hotel auf der Insel eröffnet wurde, gehören zehn Gästezimmer. Besucher bewegen sich über Rampen durch das Haus und durch den zentralen Raum-Zylinder, was der Bewegung etwas Filmisches verleiht und so die «Promenade» komplettiert. Wie auf der Insel auch wechseln auch im Benesse-Museum Auf- und Abstiege ab, Kadenzen und Dekadenzen führen en passant an allen Kunstwerken vorbei und hinaus in einen halbgeschlossenen Hof mit Blick auf Meer und Berge. Hier sind Hiroshi Sugimotos «Seascapes»-Fotos auf einer Hof-Umfassungsmauer so geschickt gehängt, dass der Blick des Betrachters zugleich auf die abgebildeten Meere der Welt und auf das Seto-Meer fallen kann.

(Bild: Benesse House)

Seit 2010 wird auf Nao-shima die «Setouchi Art Triennale» für zeitgenössische Kunst veranstaltet. Sie dauert acht Monate lang und findet zeitgleich auch auf elf Nachbarinseln und in zwei Küstenstädten statt. Zu Triennale-Zeiten kommen viele «lang-nasige» Connaisseure. Eine Skulptur in Form eines riesigen Kürbis' (Yayoi Kusama) grüßt ankommende Gäste schon am Hafen. Kusamas gelb-schwarzer Pünktchen-Kürbis ist zum Symbol für Nao-shimas neue Rolle als Kunst-Destination geworden. Die Dots finden sich auch schon auf dem Fährschiff. Selbst die Fähranlegestelle ist ein (Bau-)Kunstwerk. Sie wurde von SANAA aus Tokyo gestaltet. Kazuyo Sejima hat ihm seine fragile Eleganz verliehen. In Sichtweite des ephemeren Anlegers liegt eine begehbare Metallgitterskulptur von Sou Fujimoto, dem Jungstar der Tokyoter Architekturszene. Aus weiß gestrichenen Metallrosten hat er einen polygonalen «Käfig» geschaffen, in dem man sitzen kann. In Richtung Osten gelangt man in Nao-shimas schönstes Dorf, Honmura. Künstler haben in dem verschlafenen Fischerdorf in sechs leerstehenden Holz-Gebäuden «Art Houses» eingerichtet. Das eindrücklichste «Art House Project» stammt von James Turrell. Im Raumkunstwerk betreten Gäste einen pechschwarzen, fensterlosen Raum (entworfen von Ando), in dem totale Stille und Dunkelheit herrschen.

In dem baulich unverdorbenen Dorf wurde ein Ando-Museum eingerichtet. Nicht zu übersehen ist das silbergraue Holzdach des neuen Gemeindehauses. Entworfen von Hiroshi Sambuichi ist dieses hölzerne Gebäude eine Sensation: Eine Öffnung im Fußwalmdach erlaubt die natürliche Belüftung des großen Saales darunter, in dem Badminton gespielt und Bunraku-Puppentheaterstücke aufgeführt werden. Die Nord-Süd-Ausrichtung der Halle hat der Architekt den Bauten im Dorf abgeschaut. Die Leistungen der Baukunst sind auf Nao-shima bei den Bewohnern angekommen, auch wenn der Südteil der Insel ein Skulpturen- und Architekturpark geworden ist. Ein roter Kürbis von Kusama-san markiert den weißen Sandstrand zu Fuße der Kunstmuseen, der zu einem Picknick einlädt, aber nicht zu einem Bad. Es wurden schon hungrige weiße Haie im Setouchi-Meer gesichtet. Aber die Schuhe ziehen sich Strandbesucher aus, um in das warme Meer zu tippen – und das, ohne dass eine junge Frau im Baumwollanzug darum bittet.

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