Vorgespannte Material-Komposition

Autor:
Thomas Geuder | Praxis
Veröffentlicht am
Aug. 22, 2012

Die Précontraint-Membrane des französischen Spezialisten für Komposit-Materialien Serge Ferrari verleihen den von magma architecture für die Olympischen Spiele in London entworfenen Schießsportanlagen eine dynamische und brillante Optik.
Aussehen und Anmutung der Schießsportanlagen bei den Olympischen Spielen in London sind geprägt von den Membranen des französischen Herstellers Serge Ferrari. (Foto: magma architecture) 
Zweige, Lehm und Kuhmist – das waren vor über 6.000 Jahren die Stoffe, aus denen eine Flechtwerkwand bestand. Die Zweige wurden verflochten und beidseitig mit dem Lehm-Kuhmist-Gemisch beworfen, was getrocknet eine stabile wie dichte Materialkomposition ergab. Sprachhistorisch entwickelte sich aus diesem «Winden» der Zweige über den Umweg des Niederländischen schließlich die „Wand“. Das Flechtwerk ist somit Ursprung eines der wichtigsten raumbildenden Elemente in der Architektur – die «Wand» wiederum verweist auf eine der ältesten Material-Technologien: den Verbundwerkstoff.

Seitdem hat sich viel getan im Bereich der Verbundwerkstoffe, und so gibt es heute unzählige Arten sogenannter Komposit-Materialien (engl. Composition = Zusammenstellung, Rezeptur, Komposition), die jedoch immer nach dem gleichen, 6.000 Jahre alten Prinzip funktionieren: Durch Zusammenfügen mehrerer Materialien werden deren tragende Eigenschaften vereint und zugleich deren Schwächen ausgeglichen. Eines der jüngeren Komposit-Materialien sind die Membrane, die meist dort zu finden sind, wo es um leichte und weit gespannte Flächenkonstruktionen geht.
Dank einer höheren Beschichtungsdicke sind die Précontraint-Membrane mechanisch auch beständiger und langlebiger als herkömmlich beschichtete Komposit-Materialien. Im Beispiel: Précontraint 502. (Grafik: Serge Ferrari) 
Einer der führenden Hersteller solcher Komposit-Membrane ist die französische Firma Serge Ferrari, deren patentierte Technologie „Précontraint“ in zahlreichen Bauwerken, Möbeln und sogar im Yachting zu finden ist. Übersetzt heißt „Précontraint“ „vorgespannt“, womit bereits deutlich wird, was dieses Material von anderen unterscheidet: Das Kern-Gewebe wird während des Aufbringens der beidseitigen Beschichtung in alle Richtungen (Kette und Schuss) vorgespannt. Dadurch weist das Komposit am Ende eine hohe und gleichmäßig Dimensionsstabilität und Festigkeit auf – ähnlich dem Prinzip des Spannbetons. Précontraint ist damit einer der stabilsten und leichtesten Verbundwerkstoffe auf dem Markt der Membrane.
Die mehrfach gekrümmte Fassadengeometrie ist ein Ergebnis der optimalen Formgebung und Lastenverteilung durch das Membran-Material: Stahlringe in den Gebäudehüllen drücken und ziehen die Außenhaut, sodass ein Flattern der Membrane bei Wind vermieden wird. (Foto: Hufton + Crow) 
Bei der Planung der Schießsporthallen für die Olympischen Spiele in London waren die Verbundwerkstoffe von Serge Ferrari für die Architekten des Berliner Büros magma architecture von zentraler Bedeutung. Was hier im südöstlichen Stadtteil Woolwich in Nachbarschaft zu den historischen Gebäuden der Royal Artillery Barracks entstehen sollte, war ein Ensemble aus drei Gebäuden mit Platz für 3.800 Zuschauer. Es sollten die „grünsten olympischen Spiele“ werden – so war es für die Bauherren des ODA wichtig, dass viele der Bauten nach den Spielen rückstandslos abgebaut und wiederverwertet werden können. Den Architekten von magma gelang dies durch Kombinieren einer tragenden Stahlfachwerk-Konstruktion mit einer äußeren und inneren Verkleidung aus den leichten und phthalat-freien Komposit-Materialien, die Serge Ferrari als einzige Unternehmen für die Spiele liefern konnte.

Die Vorteile dieses Entwurfs liegen auf der Hand: Die Komposit-Membrane bieten einen hervorragenden Schutz vor Wind und Wetter, sind räumlich leicht formbar und lassen sich wegen ihrer hohen Lebensdauer gut lagern und wiederverwenden. Der entscheidende Pluspunkt dabei: Serge Ferrari garantierte das vollständige Recycling der eigenen Membrane innerhalb der Unternehmensgruppe durch das Recyclingverfahren Texyloop, falls die Membrane keine Wiederverwendung finden sollten. Im Sinne des Selbstverständnisses der Londoner olympischen Spiele als die Spiele der temporären, mobilen und wandelbaren Bauten war dies das richtige Gesamtpaket. So werden die Schießsporthallen nach den Spielen wieder abgebaut, teilweise wiederverwertet und teilweise zwischengelagert voraussichtlich für die Commonwealth Games im Jahr 2014.
Thomas Geuder
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Um tagsüber den Wärmeeintrag im Gebäude zu minimieren, wurden für die insgesamt 16.000 m² Außen-Membrane die Farbe Weiß gewählt und zudem eine reflektierende Beschichtung aufgebracht. (Foto: J. L. Diehl) 
Bis zu vier Meter kragen die „Bullaugen“ an der Fassaden der Schießsporthallen aus und verleihen den temporären Bauten so ihre markante Gebäudeform. (Foto: J. L. Diehl) 
In den beiden nur teilweise geschlossenen Schießständen fanden die Qualifikationsrunden, im komplett geschlossenen Schießstand die Endausscheidungen statt. (Foto: colourbox.com) 
Wand und Decken im Innenraum wurden mit insgesamt 14.000 m² mikroperforierten Précontraint-Membran (ebenfalls in Weiß) verkleidet. (Foto: J. L. Diehl) 
Je nach Lichteinfall wird wie hier in den Eingangsbereichen durch die mikroperforierte Innenhaut die Konstruktion aus Stahl-Fachwerkträgern und Membranen sichtbar. (Foto: J. L. Diehl) 
Die Membrane wurden bereits vorgefertigt geliefert und mussten vor Ort nur noch über das Stahl-Fachwerkgerüst gelegt und befestigt werden. (Foto: ES Global) 
Die Bullaugen stabilisieren die leichten Membrane gegen Flattern und folgen immer dem gleichen Konstruktionsprinzip, können aber unterschiedlich befüllt werden. (Grafik: magma architecture) 
Clever: Im Gebäude entsteht durch die besondere Anordnung der Bullaugen ein Kamineffekt, der für die natürliche Be- und Entlüftung des Innenraums sorgt. (Grafik: magma architecture) 
Im dreidimensionalen Schnitt durch die große Halle wird das Zusammenspiel zwischen tragender Stahlkonstruktion und schützender Membran-Haut deutlich. (Grafik: magma architecture) 
Serge Ferrari S.A.S.
La Tour du Pin, F

Projekt
Schießsportanlagen für die olympischen und paralympischen Spiele in London 2012

Hersteller-Kompetenz
Précontraint 1002 S2 Weiß
Soltis 92 Weiß

Bauherr
Olympic Delivery Authority
London, GB

Architekten
magma architecture ParG
Martin Ostermann und Lena Kleinheinz
Berlin, D

Generalplanung, Tragwerk, Haustechnik
Mott MacDonald
London, GB

Masterplan, Ballistik
Entec
London, GB

Stahlbau und Membrane
John Sisk & Son
Hertfortdshire, GB
ES Global
London, GB

Membranbau/Konfektionierung
Base Structures
Bristol, GB

Ausstattung und Branding
London Organising Committee of the Olympic Games and Paralympic Games (LOCOG)
London, GB

Fertigstellung
2012

Bildnachweis
magma architecture
Serge Ferrari
J. L. Diehl
Hufton+Crow
ES Global