Karton als Baustoff der Zukunft

Autor:
Felix Ackerknecht
Veröffentlicht am
Okt. 20, 2010

Karton ist aus dem Alltag der Aufbewahrung nicht mehr wegzudenken: Polstergruppe, iPhone und Milch kommen in Karton eingehaust zu uns. Was für unsere Konsumgüter gut ist, das kann für uns selbst nur recht sein – und tatsächlich ist Karton in der Architektur präsent. Der Baustoff Karton ist der jungen Architektin Özlem Ayan sowohl bei bisherigen Bauten wie auch als neue Bauweise im Wohnungsbau bestens vertraut, sie erforscht ihn mit einer Doktorarbeit an der ETH Zürich.

Als zurzeit ausgereiftesten, auf eine lange Lebensdauer ausgelegten Kartonbau führt Özlem den 2001 in Großbritannien erstellten Schulbau West Borough Primary School an. Ein Tragwerk aus Kartonpaneelen und -rohren, so wie eine Verkleidung aus Cellulosefaserzementplatten, wurde verwendet, mit eigens entwickelten Beschichtungen für den Feuchtigkeits- und Feuerschutz.

 
Viele erwarteten, dass sich über diesen Schulbau gewonnenes Know-how in zahlreichen Kartonbauten niederschlagen würde, doch die Verbreitung von Kartonstrukturen beschränkt sich weiterhin weitgehend auf temporäre, demontierbare Bauten. Özlem betont, dass sowohl die Bauindustrie wie Versicherungen und Behörden auf Innovationen sehr schwerfällig reagieren – aus Sorge um die Dauerhaftigkeit der Bauten und um die Sicherheit der Menschen. Özlems Doktorarbeit dient nun dazu, Trag-, Dämm-, Feuerschutz- und Feuchteresistenz-Funktionen eines Wandaufbaus aus Karton zu optimieren, um nunmehr gar zweigeschossige Bauten herstellen zu können. Im Zusammenhang mit einer Doktorarbeit von Almut Pohl am Institut für Baustatik und Konstruktion der ETH gelang es, das Erfüllen dieser Funktionen verlässlich nachzuweisen. Als nächsten Schritt möchte Özlem Langzeiterfahrungen aufzeigen, um Versicherungen, Behörden und nicht zuletzt Bauherren für den Baustoff Karton zu gewinnen.
 
Potenzial Karton
Als Testfeld sieht Özlem den dynamischen Markt der zweigeschossigen Wohnbauten – das altbekannte Einfamilienhaus. Viele Eigenschaften dieses Bautyps scheinen auf den Baustoff Karton zugeschnitten zu sein – seine räumlichen Anforderungen mit verhältnismässig geringen Spannweiten versprechen für den Karton eine hohe Markttauglichkeit. Auch soziale Aspekte, besonders die zunehmende Nachfrage nach Wohnraum, scheinen in diesem Kontext Vorteile zu ergeben. So gibt Özlem zu bedenken, dass die Einwohner der Schweiz durchschnittlich alle zehn Jahre ihre Behausung wechseln, weil sich ihre Raumbedürfnisse verändern – meistens wachsen sie, wie die Statistik aufzeigt: Von 1980 bis 2005 nahm die pro Person beanspruchte Fläche von 34 Quadratmeter um dreißig Prozent auf 44 Quadratmeter zu. So lässt sich ein Nachteil des Baumaterials Karton – die noch nicht hinlänglich nachgewiesene Dauerhaftigkeit – als Vorteil interpretieren, denn die Bauten lassen sich dafür leicht anpassen. Durch sein geringes Gewicht ist Karton leicht handhabbar und kann durch Vorfabrikation im Trockenbau kostensparend montiert werden. Der große konstruktive Vorteil liegt jedoch in vergleichsweise hohen Wärmedämm- und Wärmeregulierungswerten eines Kartontragwerks. Einzig fehlt dem Karton in der Bauindustrie noch die Kostenersparnis durch hohe Stückzahlen, wie beispielsweise dem Backstein.
 
Entwicklungsschübe der Kartonbauweise
Wie oftmals bei technischen Neuerungen war das Militär, das seit jeher mit phänomenalen Forschungsbudgets die Grenzen des technisch Machbaren nach vorne schiebt, auch bei der Entwicklung von Kartonbauten an vorderster Front dabei – wörtlich wie im übertragenen Sinn. So begann die Entwicklung gedämmter, feuer- und witterungsfester Bauten aus Karton während des Zweiten Weltkriegs, als die Verpackungherstellerin Container Corporation of America im Auftrag der Armee der USA die Notunterkunft "1944 House" erfand, um in kürzester Zeit einfache Behausungen aufrichten zu können. Doch schon bald machten leistungsfähige und kostengünstige Produkte der aufkommenden Kunststoffindustrie den Kartonerzeugnissen Konkurrenz – und nahmen seiner Entwicklung zum Baustoff den Wind aus den Segeln.
Die Entwicklung kam erst wieder in Fahrt – nur für eine kurze Zeit allerdings – als sich der US-amerikanische Architekt Buckminster Fuller mit seinen Schriften und Experimenten mit Karton befasste. Im Jahr 1954 schuf er mit Studierenden an der Tulane University einen geodäsischen Dom und gewann an der Triennale di Milano mit einem solchen Bau den Gran premio.
 
Massenproduktion, effiziente Distribution, schnelle Montage und niedrige Kosten waren wichtige Aspekte von Fullers Utopien, für die das Material Karton ein großes Potenzial versprach. Der auf Zellulosefasern basierende Stoff brachte jedoch auch gewisse materialtechnische Herausforderungen, die zur Anwendung von Zuschlagsstoffen führte, wie beispielsweise Schwefel, um die Festigkeit zu erhöhen, oder von Beschichtungen aus Leinsamenölen, Kupferlösungen, Polyurethanfarben oder Zement, um die Witterungs- und Feuerbeständigkeit zu verbessern. Dann setzten Plastik und Kunststoffe – wie das 1954 von Bayer entwickelte Polykarbonat – der Verwendung von Karton ein jähes Ende. Kartonarchitekturen fanden nur mehr beim Messebau Verwendung, mit Ausnahme der 1970er-Jahre, als Karton bei Experimentalpavillons im Verbund mit anderen, leistungsfähigeren Materialien eingesetzt wurde.
 
Erst der in den USA ausgebildete japanische Architekt Shigeru Ban realisierte schließlich dauerhafte Bauten aus Karton. Während der späten 1980er-Jahre testete er mit dem temporären Pavillon Paper Arbor (Japan 1989) und der temporären Veranstaltungshalle Odawara Hall and East Gate (Japan 1990) den Baustoff Karton, bis er den permanenten Bibliotheksanbau Library of a Poet (Japan 1991) realisierte. Bei diesen und einigen nachfolgenden Projekten besteht die Tragstruktur aus Kartonrohren. Als Alternative dazu entwickelte er später für das Nemunoki Children Art Museum (Japan 1999) eine Dreiecks-Gitterstruktur mit Stegen aus Wellkartonpaneelen, die mit Aluminiumschuhen untereinander verbunden sind.

Zukunftsperspektiven
Um Kartonbauten zu erstellen, wird einerseits verhältnismäßig wenig Energie verbraucht, und andererseits stammt der größte Teil des verwendeten Rohstoffs aus dem Recycling – über siebzig Prozent des Verpackungskartons wird heute laufend wiederverwertet. Dies wie der geringe Schadstoffausstoß bei der Produktion machen Karton ökologisch attraktiv, was sich katalytisch auf die Weiterentwicklung der Bautechnologie mit Karton auswirken könnte.
Sollte sich Karton im Einfamilienhausbau bewähren, sieht Özlem Ayan bei Renovierungen und Umbauten einen weiteren, zukunftsträchtigen Markt – macht doch dieses Marktsegment achtzig Prozent der Bauwirtschaft aus. Als Leichtgewicht könnte eine Kartonstruktur möglicherweise bei so mancher Aufstockung dem Gebäude die Krone aufsetzen. fa
 
Forschungsprojekt CATSE der ETH Zürich
(Cardboard in Architectural Technology and Structural Engineering)

Dissertation Cardboard in architectural technology and structural engineering: A conceptual approach to cardboard buildings in architecture von Özlem Ayan

Dissertation Strengthened corrugated paper honeycomb for application in structural elements von Almut Pohl


Dank
Der nebenstehend Beitrag wurde zuerst im eMagazin von swiss-architects.com, Ausgabe 25|10, veröffentlicht.
Wir danken Felix Ackerknecht und der Redaktion von swiss-architects.com für die Möglichkeit, den Artikel auch unseren Lesern präsentieren zu dürfen.