Experimentierfeld Peripherie

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Sept. 22, 2010

Städtebau erschöpft sich nicht in der Neugestaltung von Innenstadtarealen, in Waterfronts oder in Projekten einer wie auch immer verstandenen New Urbanity. Im Gegenteil: Die wichtigen und häufigsten Aufgaben stellen sich im Alltag in jenen Orten, die wenig oder gar nicht öffentlich wahrgenommen werden. Ökonomische Zwänge und schwierige Rahmenbedingungen erfordern dort mitunter ein hohes Engagement aller Beteiligten, aber auch Erfindungsreichtum und Sensibilität.
 
Köln – Siedlung Buchheimer Weg
Man mag noch soviel die Renaissance der Innenstädte beschwören und sich verächtlich über die Peripherie äußern: Allein der Blick auf den Stadtplan sollte verdeutlichen, dass Siedlungen und Wohngebiete in den Randlagen so viel Raum einnehmen, dass sie zu vernachlässigen unverantwortlich wäre. Zum Beispiel die Siedlung Buchheimer Weg im Osten von Köln. In einer typischen Zeilenstruktur an einer Ringerschließung entstanden in den 1950er Jahren Häuser für Flüchtlinge aus der damaligen DDR, der Träger, die GAG Immobilien, musste schnell und preiswert bauen. Fünfzig Jahre nach Fertigstellung waren die Gebäude in einem sehr schlechten Zustand, sie energetisch zu ertüchtigen und zu sanieren wäre selbst mit den Fördergeldern, die man dafür hätte in Anspruch nehmen können, nicht rentabel gewesen. Ziel der GAG war es aber, die Miethöhe und damit die Bewohner zu halten – keine leichte Aufgabe. Um die einzige Alternative, Abriss und Neubau mit dieser Vorgabe stemmen zu können, sollte weder das Baurecht geändert (was für die GAG mit zusätzlichen Kosten verbunden gewesen wäre) noch die technische Infrastruktur neu angelegt werden – die Ausnutzung der Grundstücke musste aber gesteigert werden. Dazu galt es, eine Reihe von für diese Siedlungsform typischen Problemen zu beheben: Die undifferenzierten Freiräume den verschiedenen Nutzerbedürfnissen zuzuordnen, dem gestiegenen Bedarf an Parkplätzen gerecht zu werden, ohne die Charakteristik der Siedlung prinzipiell in Frage zu stellen, das Erscheinungsbild freundlicher und abwechslungsreicher zu gestalten.
 
Das Büro Astoc aus Köln setzte sich in einer Mehrfachbeauftragung mit seinem Vorschlag durch. Zwei Baukörpertypen ersetzen die abgerissenen Häuser, sie sind leicht geknickt, so dass sich hofähnliche Bereiche ergeben, ohne dass der durchgehende Freiraum aufgegeben wird. Park- und Spielplätze, Gemeinschaftsflächen und den Erdgeschossen zugeordnete Gärten werden durch unterschiedlich hohe Hecken voneinander getrennt, so dass Sichtschutz und die Möglichkeit zur sozialen Kontrolle gleichermaßen gewährleistet sind. Der alte Baumbestand wurde weitgehend erhalten. Die Wohnungstypen variieren von Ein- bis Vierzimmerwohnungen, die Größen von 42 bis 95 Quadratmetern. Die Wohnungen sind so entworfen, dass die Möbel an den Innenwänden untergebracht werden können und kein Licht wegnehmen müssen. Alle Wohnungen sind barrierefrei; den Wohnraumförderbestimmungen entsprechende Gruppenwohnungen sowie Pflegewohnplätze wurde ebenfalls integriert. Im dritten Bauabschnitt werden außerdem eine Kindertagesstätte, eine Café des Mieterrates, ein Wohnheim für Menschen mit Behinderungen und einige Büroräume errichtet. Ein in Grüntönen differenziertes Farbkonzept betont die Plastizität der Baukörper, die Farbe wechselt an den Fassadenknicken und variiert je nach Orientierung. Ein sensibles Umzugsmanagement der GAG sicherte zudem, dass sich die Mieter, die zuvor hier gewohnt hatten, keine neue Heimat suchen mussten. Auch wenn der dritte Bauabschnitt noch nicht realisiert ist, kann von einem Erfolg gesprochen werden – bei einer Steigerung der Bruttogeschossfläche um mehr als siebzig Prozent wurde der Charakter des Siedlungstyps erhalten, ohne dass seine Probleme geblieben wären.
 
Neues Wohnen in Jenfeld – Jenfelder Au
Anders stellt sich die Aufgabe in Jenfeld, tief in Hamburgs Osten dar. Hier stand ein Kasernenareal zur Disposition – das der ehemaligen Lettow-Vorbeck-Kaserne. Das Areal hat eine Größe von etwa dreißig Hektar, der Wettbewerb von 2006 forderte, "die Fläche als neuen Wohnstandort mit Gewerbe- und Grünanteil im Kontext seiner Umgebung zu entwickeln." Im Kontext seiner Umgebung – das ist eine Allerweltsstruktur der Nachkriegszeit ohne erkennbare Ordnung: Gewerbegebiete, Siedlungsbauten und Einfamilienhäuser. Jenfeld hat nicht gerade den besten Ruf. Die Planer von West 8 aus Rotterdam gewannen den Wettbewerb – sie erkannten, dass dem Stadtteil mit seiner Dorfstruktur auch die Orte verloren gegangen waren, an denen sich das öffentliche Leben abspielen könnte. Ihr Entwurf verbindet ökologische Ansprüche mit stadtstrukturellen Überlegungen – aus dem Wassermanagement wird eine sichtbare und stadtteilprägende Qualität gemacht. Aus der Möglichkeit, den gesellschaftlichen Mix von Jenfeld und die Individualität seiner Bewohner sich hier abzeichnen zu lassen, soll nun ein Ort entstehen, der den verlorenen alten Ortskern ersetzen kann. 2008 erwarb die Stadt das Areal als Zwischenkäufer, 2013 soll dieses Gebiet ein Referenzprojekt der IBA sein. 720 Wohnungen werden in Einzel-, Doppel- und Reihenhäusern entstehen. Der Haustyp, der den neuen Stadtteil prägen wird, ist das Stadthaus – eine Reihenhaus, das sich zur öffentlichen Seite mit einer charakteristischen Fassade zeigt und trotzdem die Verwirklichung des eigenen Wohntraums ermöglicht. Ein Katalog bietet eine reiche Varianz an Farb- und Fassadengestaltungen, die trotz Individualität in der Summe ein Ganzes ergeben, ohne monoton zu werden. Es werden Blöcke in verschiedenen Zuschnitten mit geschützten Innenbereichen und Reihenhauszeilen am Rand entstehen, im Norden wird mit einem Raum für neues Gewerbe an das bestehende Gewerbegebiet angeknüpft. Einige der Kasernengebäude werden erhalten bleiben.
 
 
Herzstück des neuen Quartiers ist ein langgestreckter Park, in dem gesammeltes Regen- und aufbereitetes Abwasser in Kaskaden abfließt. Zwischen diesem Park, einem Weiher und den erhaltenen Kasernengebäuden wird das Quartierszentrum mit öffentlichen Einrichtungen platziert sein.
Flache Gräben sammeln zunächst das Regenwasser im Blockinnern und entlang der Fahrbahnen und leiten es in den Kaskadenpark, von wo es in einen Weiher fließt. Eine Regelanlage gibt das Wasser portioniert an Sihlen und Rigolen ab. Regen-, Grau und Toilettenwasser werden getrennt und zur weiteren Nutzung gezielt aufbereitet. Alle Wohnungen sollen Vakuumtoiletten erhalten. Mittels Photovoltaikanlagen auf den Dächern und einem Blockheizwerk (im Gewerbegebiet) soll klimaneutral, also ohne einen Ausstoß von Treibhausgasen, Energie erzeugt werden. Bioenergie aus dem Schwarzwasser und Erdwärme werden dazu herangezogen.
Eine frühe Beteiligung der Bewohner Jenfelds hat dem neuen Stadtteil eine hohe Akzeptanz beschert – schon an der Wettbewerbsentscheidung waren lokale Akteure eingebunden gewesen. Kürzlich entschied sich die Jury eines eigens ausgelobten Wettbewerbs dafür, das neue Quartier Jenfelder Au zu nennen. Seit 2009 wird das Gelände bebauungsfähig gemacht, seit 2010 sind die Wasser- und Grünanlagen sowie das Straßennetz in Bau, ab dem nächsten Jahr wird dann tatsächlich der Bau beginnen. Man kann auf das Ergebnis sehr gespannt sein. ch
Köln Buchheimer Weg
Standort: Köln Ostheim, Buchheimer Weg und Grevenstraße
Architekten: Astoc Architects and Planners, Köln
Bauherr: GAG Immobilien AG, Köln
Planungszeit: 1.-3. BA: 2005-10
Bauzeit: 1. BA: 2007-09
2. BA: 2008-11
3. BA: 2009-12

434 Wohnungen
51.600 qm BGF

Neues Wohnen Jenfeld – Jenfelder Au
Wettbewerbsentwurf und Masterplan: West 8 Urban Design & Landscape Architecture
Projektträger: Freie und Hansestadt Hamburg
Planungsbehörde: Bezirksamt Wandsbek, Fachamt für Stadt- und Landschaftsplanung, Karl-Heinz Ulmen, Frank Conrad, Achim Kosok, Hamburg
Verfahrensbegleitung: Büro Luchterhandt, Stadtplanung, Stadtforschung, Stadtreisen, Hamburg
Technische Realisierung und Betrieb “Hamburg Water Cycle®”: Hamburg Wasser, Hamburger Stadtentwässerung AöR

Zum Projekt Neues Wohnen in Jefeld kann hier ein Dokument mit weiterer Information herunter geladen werden.