Fondatione Agnelli in Turin von Carlo Ratti Associati

Und das Gebäude schaut zu

Thomas Geuder
12. marzo 2018
Die Fondazione Agnelli (Agnelli-Stiftung) wurde 1966 anlässlich des 100. Geburtstags von Giovanni Agnelli gegründet. (Bild: Beppe Giardino)

Projekt: Fondatione Agnelli in Turin von Carlo Ratti Associati (Turin, DE) | Architektur: Carlo Ratti Associati (CRA) (Turin, IT) | Bauherr: Fondazione Agnelli (Turin, IT) | Hersteller: Siemens Italia (Mailand, IT), Kompetenz: Gebäudemanagementsystem | weitere Projektdaten siehe unten

Der Familienname „Agnelli“ lässt hierzulande nur wenige aufhorchen. Automobil-Fans oder auch Architektur-Begeisterte aber wissen, dass Giovanni Agnelli (1866-1945) im Jahr 1899 einer der Gründungsväter der „Fabbrica Italiana Automobili Torino“, besser bekannt unter dem Namen FIAT. Bekanntes und auffälliges architektonisches Wahrzeichen des Unternehmens ist das 500 m lange Hauptgebäude aus den 1920er-Jahren in Turin, auf dessen Dach sich die werkseigene Renn- und Teststrecke als Rundparcours befand. Im Jahr 2002 wurde das Gebäude (mit mittlerweile stillgelegter Teststrecke) von Renzo Piano um die „Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli“ ergänzt, ein aufgeständerter, silberfarbener Pavillon mit weit auskragendem Lamellendach in typisch Piano‘scher Manier, von ihm selbst liebevoll als Schrein mit fliegendem Teppich bezeichnet. Der 100. Geburtstag von Giovanni Agnelli im Jahr 1966 war Anlass für die Gründung der „Fondazione Agnelli“, der Agnelli Stiftung also, die künftig als unabhängige und gemeinnützige Forschungsinstitution tätig sein sollte. Sitz der Stiftung in Turin ist die Villa von Giovanni Agnelli, ergänzt durch einen neuen Anbau, in dem später ein Zentrum für Design und Architektur entstand.

Carlo Ratti hat sich bei seiner Renovierung auf wenige architektonische Eingriffe konzentriert, wie etwa das Hinzufügen eines Glas-Pavillons im Erdgeschoss. (Bild: Beppe Giardino)

Nach fast 50 Jahren des Bestehens der Stiftung stand nun die Renovierung des kombinierten klassizistisch-brutalistischen Hauses an, die von Carlo Ratti Associati (ebenfalls aus Turin) gestemmt wurde. Sein architektonisches Ziel: Mit elegant eingesetzten Ergänzungen soll das Gebäude mit Garten und Stadt verbunden werden. Das erreicht er zunächst durch den Anbau eines Glaskörpers im Erdgeschoss mit einem Café als Treffpunkt für die Bewohner des Quartiers. Der Garten, von dem französischen Landschaftsarchitekten Louis Benech mit Obstbäumen versehen, ist als Ruhepol für die Mitarbeiter gestaltet. Im Hauptgebäude wurde der historischen Treppe durch ein großzügiges Oberlicht neues Leben eingehaucht. Das üppig hereinfallende Licht erleuchtet das Kunstwerk „La congiuntura del tempo“ (Die Konjunktion der Zeit) des Lichtkünstlers Olafur Eliasson, eine Art Kaleidoskop, das die Räume auf beiden Seiten – im alten und im neueren Gebäudeteil – in angenehme Farben taucht. Sämtlicher Büroräume wurden von allem Überflüssigen befreit, damit sich die Mieter – eine bunte, multidisziplinäre Mischung aus Kreativen, Kapital-Investoren, Forschern und Lehrern – ihr Umfeld nach eigenem Gusto ausstatten können. Statt geschlossener Trennwände gibt es nun großzügige Glaswände, die Beleuchtung und die Klimatisierung sind in der Decke untergebracht.
 

Der Lichtkünstler Olafur Eliasson hat für die Schnittstelle zwischen beiden Gebäudeteilen das Kunstwerk „La congiuntura del tempo“ geschaffen. (Bild: Beppe Giardino)

Bemerkenswert bei diesem Projekt ist die Technologie, die im Hintergrund für eine gute Arbeitsatmosphäre sorgen soll. „Office 3.0“ nennen die Planer ihr Konzept, das zusammen mit Siemens erstellt wurde und das Zusammenleben von Mensch und Haustechnik auf ein neues Level heben soll. Es soll ein Gebäude entstehen, das mitdenkt, mitfühlt und individuell reagiert. Grundgedanke im digitalen Konzept ist der „Bubble“, eine Blase, die jeder Nutzer quasi mit sich trägt und die gefüllt ist mit allen nötigen Informationen, die für ein individuelles Arbeitsambiente notwendig sind. Das funktioniert im Prinzip so: Das System ermittelt durch Geolokalisierung per Low-Energy-Bluetooth stetig den aktuellen Aufenthaltsort jedes einzelnen Mitarbeiters und stellt die Bedingungen des Raums oder Bereichs, in dem er sich gerade befindet, ganz automatisch auf ihn ein. Heizung, Lüftung, Kühlung und Beleuchtung werden so nutzerabhängig und angepasst. Dazu notwendig sind hunderte Sensoren, die ständig die Temperaturen, die CO2-Konzentration, die Verfügbarkeit von Meeting-Räumen und andere Gebäudedaten messen – ohne aber den Mitarbeiter persönlich zu identifizieren, verspricht der Hersteller.

Die Innenräume sind nach der Sanierung gänzlich befreit von allem, was überflüssig sein könnte. (Bild: Beppe Giardino)

Hinter alledem steckt ein auf Smartphones basierendes „Drei-Achen-Indoor-Positioning-System“, das in „Desigo CC“ integriert ist, ein von Siemens entwickeltes Gebäudemangementsystem, das auf der Internet-of-Things-Technologie (IoT) basiert. Die Mitarbeiter ihrerseits müssen sich lediglich die entsprechende App installieren und per Wifi einloggen, um in den Genuss der digitalen Vorteile kommen zu können. Mit der App können die Menschen auch ins Gebäude einchecken, mit Kollegen interagieren, Meeting-Räume buchen und die Umgebungseinstellungen individuell anpassen. Verlässt ein Nutzer einen Raum wieder, schaltet der Raum sofort in einen Standby-Modus. Mit alledem soll, so der Wunsch der Planer, bis zu 40 % der Energie eingespart werden.

„Warum sollten wir noch ins Büro gehen, wenn die Arbeit immer digitaler wird?“, fragt Carlo Ratti provokativ, der auch Direktor des Senseable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist. „Die Antwort auf diese Frage liegt in der zwischenmenschlichen Interaktion. Die zentrale Idee beim Agnelli-Projekt besteht darin, dass durch die nahtlose Integration digitaler Technologien in den physischen Raum eine bessere Verbindung zwischen Mensch und Gebäude geschaffen werden kann.“ Mit seinem Projekt sieht er eine Vision erfüllt, die die Grenzen des Prä-Internet-Raums und die Isolation des digitalen Home-Office überwindet. Das ist genau genommen wieder ein höchst analoger Ansatz – und ein alter zugleich: Menschen gehen wieder gerne ins Büro, weil sie dort die sie optimale Arbeitsbedingungen vorfinden.
 

Jeder Mitarbeiter wird von einer Art Blase im Gebäude verfolgt, die vom Gebäudemanagementsystem digital definiert ist. (Bild: Beppe Giardino)
Das System stellt die Bedingungen des Raums oder Bereichs, in dem er sich gerade befindet, ganz automatisch auf ihn ein. (Bild: Beppe Giardino)
Grundriss 3. Obergeschoss (Quelle: Carlo Ratti Associati)
Grundriss 2. Obergeschoss (Quelle: Carlo Ratti Associati)
Grundriss 1. Obergeschoss (Quelle: Carlo Ratti Associati)
Grundriss Erdgeschoss (Quelle: Carlo Ratti Associati)
Per „Drei-Achen-Indoor-Positioning-System“ von Siemens weiß das Gebäudemanagementsystem immer, wo sich jeder einzelne Mitarbeiter befindet. (Bild: Beppe Giardino)
Großflächige Netze im neueren Gebäudeteil lassen nun den Blick über alle Geschosse zu. (Bild: Andrea Guemani)
Der Garten wurde im Zuge der Sanierung von dem französischen Landschaftsarchitekten Louis Benech mit Obstbäumen versehen. (Bild: Beppe Giardino)

Projekt
Fondatione Agnelli
Turin, DE

Architektur
Carlo Ratti Associati (CRA)
Turin, IT

Team
Carlo Ratti, Saverio Panata, Antonio Atripaldi, Francesco Strocchio, Andrea Cassi, Valentina Grasso, Mariachiara Mondini, Andrea Riva, Nicola Scaramuzza

Bauherr
Fondazione Agnelli
Turin, IT

Hersteller
Siemens Italia
Mailand, IT

Kompetenz
Gebäudemanagementsystem

Landschaftsarchitektur
Louis Benech
Paris, FR

Innenarchitektur Café
Simmetrico
Mailand, IT

Innenarchitektur Büros
Natalia Bianchi Studio
Mailand, IT

Statik und Bauleitung
Studio Ferraresi
Pavia, IT

Bautechnisches, Mikroklima- und Gebäudemangement-Design
Studio Lazzerini, Paolo Lazzerini
Turin, IT

Beleuchtungsplanung
Roberto Pomè
Turin, IT

Historische Beratung
Michele Bonino

Der Co-Working-Space wird genutzt von
Talent Garden

Geschossfläche
6.625,5 m²

Grundstücksfläche
2.015 m²

Fertigstellung
2017

Fotografie
Beppe Giardino
Andrea Guermani


Projektvorschläge
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