Aging in Place! Und was, wenn nicht?

Author
sh
Published on
Jan 18, 2012

Die Lebenserwartung der Deutschen nimmt jeden Tag um sechs Stunden zu, pro Jahrzehnt also um 2,5 Jahre (vgl. James W. Vaupel, Biodemography of human aging, in: Nature, (2010) 464, S. 536–542). Gleichzeitig steigt das Risiko an Alzheimer oder Demenz zu erkranken, körperlich gebrechlich zu werden und sich deshalb nicht mehr selbst versorgen zu können. Deshalb werden in den nächsten Jahrzehnten vermehrt Gebäude entstehen, die unseren alten Menschen eine lebenswerte Umgebung bieten müssen. Doch wie können solche Häuser aussehen? Auf welche Kriterien ist zu achten?
 
Ein jeder fühlt sich in seiner ihm bekannten Umgebung am wohlsten. Die Wohnung oder das Haus sind vertraut und so eingerichtet, wie man es sich vorstellt, ein soziales Netzwerk ist vorhanden, man weiß, wo man am besten einkauft, welcher Bus oder welche Bahn ins Stadtzentrum, ins Theater oder einen anderen liebgewonnenen Ort fährt. Da unterscheiden sich alte und junge Menschen in keiner Weise. Deshalb ist es allzu verständlich, dass die meisten Senioren danach streben, möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden zu führen. Doch nicht immer ist das möglich, was vielfältige Ursachen haben kann. Die körperlichen Einschränkungen werden zu groß, die geistigen Fähigkeiten lassen nach, die derzeitige Wohnung lässt sich nicht barrierefrei umbauen, die Kinder sind aufgrund der allen abverlangten Mobilität in eine weit entfernte Stadt gezogen oder es ist gar keine Familie da, die den alten Menschen pflegen und betreuen könnte. Vielen bleibt also nichts anderes übrig – denn so negativ wird es oftmals gesehen –, als in ein Alten(pflege)heim zu ziehen. Und in den kommenden Jahrzehnten wird die Zahl deutlich zunehmen, wie die nachfolgende Statistik zeigt.
 
Früher bestimmten standardisierte Zimmer, Möbel des jeweiligen Trägers und eine Raumfolge, die mehr praktisch als therapeutisch sinnvoll war viele Alten- und Pflegeheime. Oftmals waren die Türen zu den öffentlichen Fluren abgeschlossen, damit niemand davonlaufen konnte – vor allem auf den Stationen, in denen geistig verwirrte Menschen lebten. Die Freiheit des Einzelnen steht in diesen Fällen seiner eigenen Sicherheit gegenüber. Mittlerweile gibt es einige Beispiele, die zeigen, dass es auch anders geht, wenngleich noch immer viele auf der Suche nach den richtigen Ansätzen sind. Denn so viel ist allen klar geworden: Eine Patentlösung wird es nie geben.
 
Als sehr gelungen darf das Kompetenzzentrum Demenz in Nürnberg bezeichnet werden, das bereits 2006 fertiggestellt und im Auftrag der Diakonie Neuendettelsau realisiert worden ist. feddersenarchitekten aus Berlin konnten gemeinsam mit Harms Wulf Landschaftsarchitekten den Wettbewerb für sich entscheiden. Denn in Nürnberg wollte man weg von der rein funktionalen Pflege, hin zu einem Konzept, das sich am "normalen" Leben und Wohnen alter Menschen orientiert. Die Gruppengrößen wurden deshalb auf maximal zwölf Bewohner plus einen Tagespflegeplatz reduziert. Doch stellt sich allein dadurch bereits ein Gefühl der Behaglichkeit ein? Wohl eher nicht. Ein Mensch fühlt sich dann wohl, wenn er seine Umgebung als vertraut empfindet, wenn auf ihn als Individuum eingegangen wird. Deshalb entschieden sich die Architekten für acht verschiedene Arten von Wohngemeinschaften, die sich in ihrer räumlichen Organisation und in ihrer Ausstattung unterscheiden. Die eine ist dank eines Patios vom Tageslicht durchflutet, die andere eher dunkel gestaltet, die eine konzentriert sich auf sich selbst, die andere ist extrovertiert. Die Farben sind mal hell, mal dunkel, die Wände mal verputzt und gestrichen, mal roh belassen, wie eine Sichtmauerwerkswand im Erdgeschoss. Es darf aber keinesfalls ein wildes Durcheinander entstehen, denn dies würde dazu führen, dass sich die alten Menschen unsicher fühlen.
 
Eine besondere Idee haben sich die Architekten einfallen lassen, um solche Möbel zu bekommen, die die Menschen von zuhause kennen. In unmittelbarer Nachbarschaft gibt es betreute Wohnungen für Senioren, die dort meist nicht alle eigenen Möbel unterbringen können. Deshalb wurde ein Zettel aufgehängt und darum gebeten, übrige Einrichtungsgegenstände im Kompetenzzentrum abzugeben. Zusammen mit den Tischen, Stühlen, Bildern und Erinnerungsstücken der Bewohner des Kompetenzzentrums, die jeder selbstverständlich mitbringen darf, entsteht eine vertraute Atmosphäre, die vielleicht nicht den Geschmack eines jeden (Architekten) treffen mag, den alten Menschen aber sehr dabei hilft, sich in ihrer neuen Umgebung zuhause zu fühlen. Dazu kommen wichtige Details. Direkt hinter der Eingangstür einer jeden Wohngemeinschaft ist eine Garderobe abgebracht, so wie man es von seiner eigenen Wohnung kennt. Die Türen zu den Bewohnerzimmern heben sich in ihrer Materialität von der umgebenden Wand ab, können also eindeutig identifiziert werden. Ton in Ton sind hingegen die Zugänge zu den Funktionsräumen gestaltet, denn diese sollen möglichst nur von den Betreuern erkannt werden.
Vieles, was Eckhard Feddersen und sein Team in Nürnberg ausprobiert haben – er selbst spricht davon, dass hier mit viel Neuem experimentiert worden ist und bei manchem der Ausgang nicht klar war –, funktioniert wie geplant. Schwierig gestaltet sich für das Personal hingegen manche organisatorische Aufgabe. Immer zwei Wohngemeinschaften sind zu einer Organisationseinheit zusammengefasst, räumlich allerdings immer über das Treppenhaus getrennt. Das Team nimmt sich nicht als eine Einheit wahr. Das Optimum für die alten Menschen – kleine, räumlich abgeschlossene Bereiche – steht in diesem Fall dem für das Personal gegenüber.
Das Projekt war auch noch für eine Überraschung gut. Zwei alte Menschen sollten aus der Gerontopsychiatrie in das neue Haus umziehen, um wieder ein "normaleres" Leben führen zu können. Licht und somit ein Platz im Patio-Typ würde ihre Depressionen und ihre Aggressivität mildern, so die Meinung des Pflegepersonals und auch des Architekten. Das Gegenteil war der Fall. Als sie in eine dunklere Umgebung umgezogen waren, beruhigten sie sich dagegen überraschend schnell. Anders als erwartet, zeigt dieses Beispiel dennoch deutlich, dass der gebaute Raum eine therapeutische Wirkung hat. Doch welche genau, weiß bis heute niemand.
 
Neben dem Haus spielt auch der Garten, den eine jede Einrichtung haben sollte, eine große Rolle. Denn zum einen sind viele der Menschen, die in Altenheimen wohnen, körperlich noch relativ fit, zum anderen ist wissenschaftlich mittlerweile gut belegt, dass sich der Kontakt mit der Natur positiv auf die Gesundheit auswirkt. Stress wird abgebaut, die Herzfrequenz beruhigt sich, das Sonnenlicht hilft dabei, seinen persönlichen Tag-Nacht-Rhythmus zu finden. Damit die alten Menschen den Garten genießen und auch nutzen können, darf es selbstverständlich keine Stolperfallen geben, die verschiedenen Bereiche müssen sich optisch gut voneinander unterscheiden, der Weg sollte als Rundweg und in einem einheitlichen Material angelegt sein und möglichst viele Bewohner sollten von ihren Zimmern direkt in den Garten gelangen – in Nürnberg ebenfalls ein Manko. Denn nur zwei Gruppen befinden sich im Erdgeschoss, den restlichen Platz beansprucht die Verwaltung. "Ich bräuchte dies von meinem Büro aus nicht", meint Andrea Koydl, die Leiterin der Einrichtung, und würde deshalb künftig an dieser Stelle lieber nochmals eine Wohngruppe einrichten.
Bei Demenzkranken ist besonders darauf zu achten, dass der Garten von Außeneinflüssen abgeschirmt ist und sich somit keine Weglauftendenz aufbauen kann. Beim ehemaligen Klostergarten des Seniorenwohnheims St. Josef in Berlin-Schöneberg von Harms Wulf Landschaftsarchitekten trennt eine bereits vorhandene Mauer mit verschiedenen Reliefs den Garten optimal von der Nachbarschaft. Dank eines Hochbeets können die Bewohner die Pflanzen anfassen, sie genauer betrachten, den Duft in ihre Nasen strömen lassen. Von den Beerensträuchern im anderen Teil des Gartens darf genascht werden. Die essbaren Früchte oder auch Holzscheite, die Wulf in einem anderen Projekt verwendet hat, symbolisieren den alten Menschen gleichzeitig, dass für die Zukunft, den herannahenden Winter Vorsorge getroffen worden ist. Für viele mag das nun klingen wie ein schlechter Witz, wie der Versuch, die Alten zu bluffen. Doch ein solcher Garten weckt Erinnerungen an das eigene Leben, an das eigene Stück Land, mit dem man sich selbst versorgt hat, er vermittelt also Sicherheit. Eigens für den Berliner Garten hat Wulf im Auftrag der Caritas einen erhöhten Hasenstall entworfen. Er ermöglicht den alten Menschen den direkten Kontakt. Gerade vor Tieren, die therapeutisch sinnvoll sind, schrecken viele Einrichtungen leider zurück. Im Seniorenzentrum St. Josef gab es die Hasen und die positiven Erfahrungen schon, weshalb es gar nicht zur Debatte stand, auf eines von beidem zu verzichten.
 
In der Summe stellt die Planung eines Alten(pflege)heims an den Architekten viele Anforderungen. Er muss dafür sorgen, dass sich die Bewohner sicher, aber gleichzeitig möglichst frei fühlen. Die Räume sollten geometrisch einfach gestaltet und gut zu überblicken sein. Denn ein fließender Raum, dessen Ende sich nicht erkennen lässt, löst Ängste aus. Weite und enge, helle und dunkle, farbige und farblose Bereich sind zu einer Einheit zu verbinden. Flure sollten minimiert und immer als Rundwege ausgebildet sein. Und da wir alle nicht wissen, in welche Richtung sich die Pflegekonzepte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden, ist ein Tragwerk anzustreben, mit dem sich die Gebäude einfach umnutzen und umbauen lassen.
Im Garten sind keine tropischen Pflanzen und schon gar keine Dornen oder giftige Beeren gefragt. Einheimische, bekannte Sträucher, Büsche und Blumen vermitteln dagegen wieder das angestrebte Gefühl von Sicherheit. Neugierige Blicke von außen sollten ebenso ausgeschlossen sein wie solche nach außen, die den Wunsch erzeugen, mal eben einen längeren Spaziergang jenseits des Gartens zu unternehmen. Der Landschaftsarchitekt muss die Wege einheitlich gestalten und gut sichtbar von der Umgebung abgrenzen. Ein Einzelsitzplatz bietet eine Rückzugsmöglichkeit, längere Bänke oder Sitzgruppen fördern die Kommunikation. Und auch wenn wir alle die Sonne lieben, sollten die schattigen Bereiche aufgrund der empfindlichen Haut alter Menschen überwiegen. sh
Kuratorium Deutsche Altershilfe

Tagung "Adieu späte Freiheit" des Silqua-Projektes "Gut leben im (hohen) Alter" am 16. Februar in Potsdam, Anmeldeschluss: 31. Januar 2012

Übersicht über die Heimgesetze in Deutschland

Bauen und Wohnen für ältere Menschen – Programme und Fördermöglichkeiten: eine Broschüre des BMFSFJ

"Der teure Fluch des Alters" (Der Tagesspiegel, 14.12.2011)