Neuer Pavillon erprobt die Synthese von Holz- und Textilbau

Laminiert und zugenäht

Carsten Sauerbrei
9. May 2016
Neuer Pavillon erprobt die Synthese von Holz- und Textilbau. Bild: ©ICD/ITKE Universität Stuttgart

Natur, Flora und Fauna inspirierten schon seit Anbeginn der Architekturgeschichte Baumeister aller Kulturen. War es früher die Nachahmung des Natürlichen, zu finden zum Beispiel im Jugendstil mit seinen vegetabilen Ornamenten, so liegt heute der Schwerpunkt auf dem bionischen Analysieren von Eigenschaften und Strukturen, um sie auf Materialien und Tragwerke der zeitgenössischen Architektur zu übertragen. Führend auf dem Gebiet der Verbindung von bionischen Untersuchungen mit computergestütztem Entwerfen und Bauen sind in Deutschland zwei Institute der Universität Stuttgart, das ICD (Institute for Computational Design), geleitet von Prof. Achim Menges und das ITKE (Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen), geleitet von Prof. Jan Knippers. Seit 2010 realisieren Mitarbeiter und Studierende dort jährlich einen Forschungspavillon, um neue Techniken und Methoden an der Schnittstelle von Bionik, Architektur und Digitalisierung des Bauprozesses zu entwickeln und zu erproben.
 
Bionische Untersuchung der Seeigelschale
Ausgangspunkt für den Entwurf des aktuellen Pavillons war die bionische Untersuchung der Schale des Sanddollars, einer Unterart der Seeigel durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Architekten, Ingenieuren, Biologen und Paläontologen. Schon für den Pavillon aus dem Jahr 2011 wurden die Konstruktionsprinzipien der Seeigelschale erforscht und in eine Segmentschale aus Holzplatten mit Fingerzinkenverbindungen überführt, wie in diesem Video zu sehen. Durch die erneute Untersuchung der Schale, die in Zusammenarbeit mit Biologen der Universität Tübingen erfolgte, wurde deutlich, dass die Verbindungen zwischen den Plattensegmenten der Schale nicht nur aus den bereits bekannten Zinken, sondern zusätzlich auch aus Faserverbindungen bestehen. Die Forscher vermuten, dass diese die Schale während des Wachstumsprozesses zusätzlich stabilisieren und darüber hinaus die Gesamtstabilität durch die differenzierten Materialeigenschaften innerhalb einer zweilagigen Struktur erhöht wird. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse entwickelte das Team ein Konstruktionssystem für den Pavillon, das ebenfalls als zweilagige Struktur die natürlichen Eigenschaften nachbildet. Dazu wurden zunächst dünne Furnierstreifen aus Buchenholz zu drei bis fünf Millimeter starken Sperrholzplatten laminiert. Unter Ausnutzung der verschiedenen Ausrichtung der Holzfasern konnten die zunächst ebenen Platten elastisch so verformt werden, dass sich allein durch den schichtweisen Laminataufbau die gewünschten gebogenen Schalensegmente mit ihren ungleichmäßigen Krümmungsradien ergeben.

Die mehrfach gebogenen Schalensegmente werden aus einzelnen Buchenholzfurnierstreifen aufgebaut, die zum Laminat miteinander vernäht werden. Bild: ©ICD/ITKE Universität Stuttgart

Robotergesteuerte Nähtechniken für hölzerne Segmentschalen
Üblicherweise werden für einen solchen Laminataufbau die dünnen Furnierhölzer miteinander verklebt. Im gebogenen Zustand ist dies allerdings sehr kompliziert, können die für das Verkleben erforderlichen Anpressdrücke doch in diesem Fall nur unter Einsatz aufwändiger Formwerkzeuge erreicht werden. Daher entschieden sich die Ingenieure und Forscher dafür, die Furnierhölzer nicht nur zu verkleben, sondern mit einer Industrienähmaschine auch miteinander zu vernähen. Dabei assistierte ein Industrieroboter beim temporären Fixieren der gebogenen Sperrholzstreifen in der gewünschten Form und führte während des darauffolgenden Nähprozesses die Streifen durch die Maschine. Zusätzlich wurden Membranstreifen aufgenäht, die zusammen mit den Fingerzinken die Verbindung zwischen den einzelnen Segmenten übernehmen. Später beim Aufbau des Pavillons durch die Beteiligten verschnürten diese die Einzelsegmente mittels Kevlarschnüren miteinander. Diese nehmen die Zugkräfte zwischen den einzelnen Segmenten auf. Die Normalkräfte und Scherkräfte der Konstruktion werden dagegen hauptsächlich durch die Fingerzinken übertragen. Durch die Kombination von textilen Fertigungstechniken mit den Techniken des Holzbaus konnte auf jegliche Art von metallischen Verbindungsmitteln verzichtet werden.
 
Hoch innovativer Leichtbau
Insgesamt besteht der Pavillon besteht aus 151 unterschiedlichen, robotisch vorgefertigten Segmenten. Jedes besteht dabei aus drei einzelnen, individuell laminierten Furnierstreifen aus Buchenholz. Die gesamte Konstruktion wiegt nur 780 kg, überspannt insgesamt 9,30 m und überdacht eine Fläche von 85 m². Daraus ergibt sich ein sehr geringes Verhältnis von Materialdicke zu Spannweite von ein Tausendstel im Mittel und ein durchschnittliches Konstruktionsgewicht von nur 7,85 kg/m² bezogen auf die Schalenoberfläche.
 
Mit diesem Forschungspavillon zeigen die Stuttgarter Architekten und Ingenieure erneut, wie hoch innovative Architektur, hier speziell im Holzbau durch das Ausnutzen der Wechselwirkungen zwischen Material, Form, Raum, Tragwerk und robotergesteuerter Fertigung möglich ist. Dabei entstand nicht nur eine leistungsfähige und materialsparende Leichtbaukonstruktion, sondern auch ein Pavillon der ästhetisch und räumlich fasziniert, wie dieses Video zeigt.
 

Die Fingerzinken der Segmente nehmen hauptsächlich Normal- und Scherkräfte auf, während die Membranstreifen Zugkräfte übertragen. Bild: ©ICD/ITKE Universität Stuttgart

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