Interview mit Oliver Elser

„Sie sind gekommen, um zu bleiben“

Martina Metzner
15. November 2017
Will die Betonmonster retten: Kurator Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main. (Bild: Moritz Bernoully / DAM)

Bollwerke aus rohem Sichtbeton, mit expressiver, massiver, oft skulpturaler Silhouette. Starr, vehement, herb und technisch. Das ist die Sprache des Brutalismus, der sich ab Mitte der 1960er-Jahre von England aus und mit Bezug auf Le Corbusiers „béton brut“ weltweit verbreitete – und diverse regionale Ausprägungen fand. Das Deutsche Architekturmuseum zeigt mit „SOS Brutalismus“ die unterschiedlichsten und bislang teils unbekannten Facetten dieser Ära, die wie kaum eine andere die Gemüter erhitzte. Kurator Oliver Elser erklärt im Gespräch mit Martina Metzner, weshalb ein zweiter Blick auf die Betonmonster lohnt.

Durch die Recherchen zu „SOS Brutalismus“, unterstützt von der Wüstenrotstiftung und dem Internet-Publikum, konnten Sie über 1000 Gebäude identifizieren. Müssen wir den Begriff des Brutalismus nun drastisch erweitern? 
Der Begriff ist in den letzten Jahren durch Online-Foren wie die „Brutalism Appreciation Society“ auf Facebook ohnehin erweitert worden. Mittlerweile bezieht sich auch die Deutsche Bundesbank bei ihrer Frankfurter Hauptverwaltung positiv auf den Brutalismus. Das sind also nicht wir, die den Begriff erweitern – sondern es passiert andauernd. Wir wollten diesen schillernden Begriff in den Griff bekommen, indem wir weltweit einen Überblick bieten. Die brutalistischen Bauten haben eine Rhetorik, eine Art expressiver Überdeutlichkeit, so als wenn man sehr laut spricht, sich wiederholt und rhetorische Mittel anwendet. Diese Gebäude rücken ihre Konstruktion und ihre Oberflächen mit Vehemenz in den Vordergrund. Die Frage, wo der Brutalismus endet, definieren wir so, dass nicht jedes spätmoderne Betongebäude brutalistisch ist. Im Jahr 1989, mit dem Ende der Sowjetunion, ist Schluss. 

Systematisch und sozial: der Rozzol Melara Komplex im italienischen Triest, gebaut von Carlo Celli und Luciano Celli zwischen 1969 und 1982. (Bild: Paolo Mazzo, 2010)

Die Schau mit der dazugehörigen Website sosbrutalism.org sowie der Social-Media-Kampagne geht weit über eine gewöhnliche Ausstellung hinaus. Das DAM möchte den Begriff des Brutalismus neu definieren und im besten Falle ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken. 
​Museen haben seit jeher auch den Gegenstand geprägt, über den sie Ausstellungen machen. Zum Beispiel hat die berühmte „International Style“-Ausstellung im MoMA letztlich die arme Moderne Architektur ein Stück weit auf eine Formel gebracht – wovon sie sich nie richtig erholt hat. Auch das DAM hat eine Tradition dieser prägenden Rolle, ich denke da an den Gründungsdirektor Heinrich Klotz. Es würde mich freuen, wenn uns das wieder gelingen würde. Wir rufen zwar zur Rettung der Betonmoster auf, aber gleichzeitig erwarten wir keine kritiklose Bewunderung für die Bauten dieser Zeit, sondern stellen sie in ihren ganzen Schwierigkeiten dar. Und zitieren in der Ausstellung zeitgenössische Presseberichte, etwa mit Sätzen wie „Eine der glanzvollsten Barockstädte wird mit Beton verschandelt.“ Oder: „Eine breiig schmierige Masse, charakterlos und demagogische verformbar.“ 

Steht heute leer: die Markthalle La Pyramide, die Rinaldo Olivieri in Abidjan, Elfenbeinküste, zwischen 1968 und 1973 gebaut hat.

Dank der weitreichenden Recherche kamen neue, bislang wenige oder gar nicht bekannte Fundstücke hinzu. Was überraschte Sie am meisten? 
​Eine Überraschung waren zwei Stadthäuser von Carlfried Mutschler in Mannheim, die er für sich selbst gebaut hat. Sie zeigen ganz grandios, wie sich diese Architekturhaltung weiterentwickelt hat, denn das eine ist von 1960, das andere von 1978. Sie stehen nur wenige Häuser voneinander entfernt, antworten aber wie ein Zwillingspaar aufeinander. Dann die Hochschulkirche „Johannes XXIII“ in Köln, die für die Ausstellung als Modell nachgebaut wurde. Und Israel als Region, weil dort der Brutalismus für die dortige Formierung einer neuen Nation eine starke Rolle spielt. Der graue Beton steht für eine neue proletarische Kultur, die Kibbuz-Kultur, und ist auch eine Antwort auf die weiße Bauhaus-Moderne. Eine Architektur, die formuliert: Wir sind gekommen, um zu bleiben. 

Blick in die Ausstellung: Ähnlich karg wie die Monster selbst sind die Modelle in der Ausstellung „SOS Brutalismus“, hier von der Kölner Kirche Johannes XXIII. (Bild: Moritz Bernoully / DAM)

Einige der Architekten, deren Bauten Sie aufzeigen, wehrten sich, unter den Begriff „Brutalismus“ subsummiert zu werden. Weshalb?
​Weil das Label Brutalismus einen schlechten Ruf hatte, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Bei den älteren Architekten kam es noch nicht an, dass es mittlerweile fast eine Art Ritterschlag ist, unter den Brutalismus zu fallen. Für sie war es immer noch ein Schimpfwort.

Bunker als Vorbild: die Kirche Sainte-Bernadette du Banlay im französischen Nevers, entstanden zwischen 1963 und 1966. (Bild: Bruno Bellec, 2008)

Wie sieht es mit den inneren Qualitäten der Betonmonster aus: Gab es da so etwas wie eine gemeinsame Klammer? Außer der Sichtbarmachung von Konstruktion und Materialität?
​Die Gestaltung aus einem Guss, also buchstäblich einem Betonguss, erfordert eine sehr sorgfältige Vorbereitung, Fehler sind unmöglich. Es gibt viele Beispiele von sehr gut konzipierten Innenräumen, mit hohen haptischen Qualitäten. Zum Beispiel von der isländischen Architektin Högna Sigurðardóttir, die ein Wohnzimmer mit einer Bretterschalung versehen hat. Innenräume spielen generell eine große Rolle in dieser Zeit, weil es ja oft um Bauten für eine Form von gesellschaftlichem Aufbruch geht. Der Versammlungsaspekt ist enorm wichtig, das sieht man zum Beispiel an der Architekturfakultät FAU in Sao Paolo – ebenso in der Ausstellung als Modell. Die außen liegenden Betonschürzen blenden wie Scheuklappen die Umgebung aus. Der riesige Innenraum hat eine hohe Qualität und wurde für politische Veranstaltungen genutzt. 

Israel und der Brutalismus: Ben Gurion University in Be’er Scheva von Avraham Yasky, Yaakov Gil, Ada Karmi-Melamed, Bracha and Michael Hayutin, Nadler Nadler Bixon Gil, Amnon Niv and Rafi Reifer, Ram Karmi, Chaim Ketzef, Ben Peleg. (Bild: Gili Merin, 2017)

Wie wurden die Bauten damals von der Öffentlichkeit rezipiert? Konnten Sie dazu Hinweise finden?
​Häufig skeptisch, häufig ablehnend. Kirchen hatten eine höhere Akzeptanz, öffentliche Bauten und Wohngebäude weniger. Es macht aber einen Unterschied, ob man es damals oder im Nachhinein bewertet und plötzlich Qualitäten entdeckt. Jetzt stellt sich die Frage, ob man sie zum Abschuss freigibt oder es vernünftiger ist, über Strategie nachzudenken, wie wir damit umgehen. Und da sind wir beim klassischen Denkmalschutzes, bei dem wir sagen, dass es immer sinnvoller ist, die Dinger weiter zu nutzen, weil dort so viel Energie hineingeflossen ist, gestalterisch, aber auch tatsächliche. 

Brutalistischer Moby Dick: Gymnasium in Hückelhoven von Brigitte und Christoph Parade, entstanden zwischen 1963 und 1974. (Bild: Christoph Parade, 1974)

Ein jüngeres Publikum in den sozialen Medien scheint den Brutalismus zu feiern. Wie ist das zu erklären?
​Dieser Hype hat viel damit zu tun, dass wir in der Architektur in Rekonstruktionszeiten leben, Stichwort Berliner Schloss oder Frankfurter Altstadt. Dann hat es sicher auch damit zu tun, dass wir unsere Gebäude gar nicht mehr gerne anfassen, weil sie sich eh anfühlen wie Plastikbecher. Bei den brutalistischen Bauten wird eine andere Form von Härte und Integrität geschätzt. Und es hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es einen Generationswechsel gibt – die Bauten sind einfach enorm fotogen und lassen sich gut auf Instagram posten. 

Beispielhafte Weiternutzung: das Hauptpostamt in Marburg von Johannes Möhrle, gebaut zwischen 1965 und 1976. (Foto: Felix Torkar, 2017)

Zurück zur Rettungsaktion #SOSBrutalism. Der Titel der Ausstellung ist ja programmatisch, fast schon ein Pamphlet, nicht minder die rote Liste, auf der die vom Abriss bedrohten Gebäude stehen. Was kann man also denn konkret tun, um die Gebäude zu erhalten? 
​Zunächst muss es genug Leute geben, die sich für die Bauten einsetzen. In der Denkmalpflege ist das Bewusstsein bereits vorhanden, die Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit hingegen schlecht – fraglich, ob wir da etwas ändern können. Aber es muss auch ein Bewusstsein geben bei den Architekten, die sich eher selten für den Umbau einsetzen und viel zu häufig für den Neubau. Auf der Seite der Auftraggeber brauchen wir einen Bewusstseinswandel – durch wegweisende Umgestaltungsprojekte könnten sie so etwas wie Nachhaltigkeit zum Ausdruck bringen. 

Pietätvoller Faltenwurf: Günter Bocks Trauerhalle Westhausen in Frankfurt wurde zwischen 1958 und 1963 errichtet. (Bild: Jupp Falke, ca. 1963)

Wir befinden uns hier in Frankfurt am Main, wo vor wenigen Jahren drei brutalistische Bauten abgerissen wurden – das Technische Rathaus, das nun durch wiederaufgebaute Altstadthäuser ersetzt wird, sowie das Historische Museum, das einem Neubau von Lederer Ragnarsdóttir Oei weichen musste. An der Stelle des AfE-Turm wird ein Wohnhochhaus entstehen. Werden wir in einigen Jahren diese Auslöschungen bereuen?
Im Fall der Robin Hood Gardens in London haben wir eine echte Niederlage, die zeigt, dass die Stadt immer homogener wird, immer mehr von Leuten geprägt wird, die sich das Leben dort gerade so leisten können. Unsere Städte drohen, sich zu Reichen-Ghettos zu entwickeln. Da ist so ein Projekt wie die Robin Hood Gardens – so widerständig, verrottet sie auch waren – etwas, was eine Zukunft verdient hätte. In Frankfurt kann ich mir am ehesten vorstellen, dass einige dem AfE-Turm nachweinen werden. Weil das eine belastbare Struktur war, die man leicht hätte umbauen können. Beim Historischen Museum habe ich weniger ein Problem mit dem Nachfolgebau, sondern eher damit, wie die Diskussion damals gelaufen ist – hier wurde nie die Alternative eines echten Umbaus geprüft.

SOS Brutalismus
Deutsches Architekturmuseum DAM
Frankfurt am Main
Noch bis 2. April 2018

Katalog zur Ausstellung:
SOS Brutalismus – eine internationale Bestandsaufnahme
Herausgegeben von Oliver Elser, Philip Kurz, Peter Cachola Schmal
Erscheint bei Park Books

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