#reportingfromthefront

Architekturbiennale Venedig 2016

Katinka Corts
1. June 2016
Der Auftakt der Arsenale-Ausstellung: 100 Tonnen Baumaterial der letztjährigen Kunstbiennale wurden im ersten Raum wiederverwendet (Bild: John Hill)

Mit dem Überthema «Reporting from the Front» eckte Alejandro Aravena in Deutschland erstmal an. Front meint Krieg, die Assoziation war schnell gemacht. Front meint aber auch Ressourcenverknappung und Klimawandel, kurzum: Die gesellschaftlichen Brennpunkte unserer Zeit. Auf der Biennale zeigen die Beiträge der Arsenale und einige auf der Giardini, wie Architektur, Planung und Gesellschaft mit diesen Problemen – im Kleinen und im Großen – umgehen können oder auch sollten. 
Dieses Jahr fällt besonders die präzise kuratierte und gesetzte Ausstellung im Auftakt des Arsenale auf. Viele ganz unterschiedliche Büros stellen hier Projekte aus und Themen vor, dennoch folgen alle dem Grundgedanken der Schau. Die Front ist die Ankunftsstadt, die in kurzer Zeit viele Einwanderer aufnehmen muss. Die Front ist die mongolische Jurte, in der es nach Ziegenmist stinkt, und mit der Nomaden an die Grenzen von Städten wie Ulan Bator ziehen, um hier zu arbeiten. Die Front ist auch die Grenze zwischen dem städtischen und dem ländlichen Leben, ob in der schwindenden Kleinstadt in China oder entlang der zentralen Verkehrsachse in Dubai, wo die einstigen Hochhäuser wie Miniaturen der jetzigen hohen Häuser erscheinen.

Ein Ganzes aus Vielem – Beitrag der Türkei (Bild: Katinka Corts / german-architects)

Brennpunkte für Europa sind weiterhin Flucht und Zuwanderung. Viele Länder auf der klassischen Fluchtroute des vergangenen Jahres haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und zeigen in ihren Ausstellungen die Veränderungen, die in ihrem Land passieren, seit sie von Flüchtlingsströmen gequert werden oder zu Ankunftsländern geworden sind. Im Arsenale-Raum, in dem die Türkei ausstellt, ist eine große Plastik in Form eines Schiffs gebaut. Die Einzelteile hängen von der Decke herab und bilden auf Augenhöhe bis zum Boden ein Ganzes. Der Beitrag betont die Bedeutung Istanbuls als Handelszentrum und vergleicht die Stadt mit Venedig. Das Schiff kam nach Venedig und wird schließlich wieder nach Istanbul gehen, heißt es, genauso wie Sprachen, Bauformen und Menschen das Meer seit Jahrhunderten überqueren.

Agora im griechischen Pavillon (Bild: #ThisIsACo-op © Anna Ghiraldini)

Unter dem Titel #ThisIsACo-op stellen die Kuratoren des griechischen Pavillons aus und organisieren eine Reihe von Anlässen. Allen gemein ist das Thema Krise, ob bezogen auf Flüchtende, auf Stadtentwicklung oder beschränkt auf den Berufsstand von Architektin und Architekt. Die Wände des Pavillons sind mit großen Schreibtafeln versehen, auf denen mit Kreide notiert oder gezeichnet werden kann. In der Mitte des Raumes, als kleines Amphitheater gebaut, kann gesessen, vorgetragen und diskutiert werden – was auch gut funktioniert und an den Eröffnungstagen bereits zu erleben war (zur Meldung). 

Im österreichischen Pavillon fokussiert Kuratorin Elke Delugan-Meissl auf die neue Heimat für Geflohene und zeigt Beispiele gelungener Stadtprojekte. Diese wurden in Österreich durchgeführt – in Venedig sieht man Grafiken und Bilder von den Resultaten. Wer mag, kann sich als Andenken eines der großen Plakate mitnehmen, die jeweils für eine der Interventionen oder einen Moment der Flucht stehen (zur Meldung).

Ein Plakat, eine Intervention – der österreichische Beitrag (Bild: Katinka Corts / german-architects)
Der Deutsche Pavillon als durchlässiger Baukörper, täglich, 24 Stunden (Bild: Kirsten Bucher)

Der deutsche Pavillon mag in seiner Wirkung zunächst befremden: War das Gebäude vor zwei Jahren noch «weitergebaut» und vom Bonner Kanzlerbungalow überlagert und verdichtet, empfängt es die Besucher dieses Jahr mit offenen Türen. Wobei – Türen gibt es gar keine, denn der Pavillon bleibt ständig geöffnet, Tag und Nacht. Zudem gibt es weitere, neue Öffnungen im denkmalgeschützten Gebäude, in Seitenwänden und Apsis. Knapp 50 Tonnen Stein und Material fehlen dem deutschen Pavillon zurzeit; Julian Schubert, Elena Schuetz und Leonard Streich vom Berliner Büro Something Fantastic haben es ausbauen und temporär zu Stehtischen und Sitzbänken im Gebäude umfunktionieren lassen. Mit der baulichen Öffnung des 1909 erbauten und 1938 umgebauten Pavillons gelingt den Architekten und der Architektin etwas ganz neues: Das Haus ist durchlässiger denn je, lässt Ausblicke zur Lagune und in den Garten zu und soll so die offene Haltung wiederspiegeln, die die deutsche Regierung in den letzten Monaten angesichts des Zustroms an Flüchtenden gezeigt hat. 

In der Ausstellung fragen Peter Cachola Schmal, Generalkommissar, und Kurator Oliver Elser zusammen mit Projektkoordinatorin Anna Scheuermann nach den wichtigen Grundlagen, die für eine erfolgreiche Integration von Einwanderern vorhanden sein müssen. Die Schau zeigt einen Auszug aus den 50 mittlerweile für die Online-Datenbank «Making Heimat» zusammengetragenen Beispielen. Neun Praxisbeispiele für die «Arrival City» sind im Pavillon zu sehen, in Bild und Ton beschrieben und mit Zahlen unterlegt. Es geht aber nicht um die rein baulichen Lösungen, sondern darum, wie eine Arrival City für die jeweilige Etappe des Ankommens aussehen muss, damit sie funktioniert. «Der Pavillon ist auf der Biennale einzigartig,» sagte Doug Saunders, der Autor vom Buch «Arrival City» anlässlich der Eröffnung, «weil er nicht über Szenarien und Visionen, sondern über die Realität berichtet.» So bringt die Ausstellung viele Facetten zusammen, die Räume des Pavillons werden zu einem großen Miteinander. Die Plastik-Gartenstühle darf man im Haus herum- und aus dem Haus heraustragen, um entweder die Ausstellung anzusehen oder gemütlich im Schatten des Gartens zu sitzen. Nahe an den Nachbarn Frankreich, Großbritannien, Kanada, Japan oder Korea. Oder auch weiter weg, zum Beispiel im Pavillon von Uruguay. Doch das ist eine andere Geschichte.


15. Architekturbiennale in Venedig
28. Mai bis 27. November 2016
www.labiennale.org

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